Im Bann der Dämonin
schoss seine Hand suchend in seine Tasche.
Keine Uhr.
Ich bin wach. Ich träume nicht. Verdammte Scheiße.
Das Letzte, was er von der Dämonin sah, war, wie sie auf der Fensterbank stand, die Handschellen baumelten an einer Hand herunter, und das Mondlicht spiegelte sich im Metall. Sie drehte sich zu ihm um und fixierte ihn mit ihren grünen Augen.
„Es ist Ihnen zwar gelungen, mich einzufangen, aber Sie können mich niemals festhalten.“ Ihr Haar wurde vom Wind zerzaust, als sie aus dem Fenster in die Freiheit schlüpfte.
„Luciana Rossetti ist entkommen. Die Existenz und Position des Schutzhauses sind ihr bekannt“, sagte Brandon zu dem Schutzengel an der Rezeption. „Alles ist meine alleinige Schuld.
Ich weiß immer noch nicht, wie das passieren konnte. Ich hatte sie mit Handschellen fixiert.“
Der andere Engel, ein distinguierter älterer Herr mit grauen Haaren und freundlichen braunen Augen, zuckte nur kurz mit den Schultern. Er schien wenig überrascht. „Was glauben Sie, wieso sie unserer Einheit hier in Venedig schon so lange entkommen kann? Sie ist Expertin in Sachen Flucht. Luciana Rossetti ist ein extrem trügerisches Wesen. Für viele Einheimische ist sie mehr Legende als Realität.“
„Wie kann es sein, dass sie noch immer frei herumläuft?“
Der Concierge lachte kurz auf. „Ach, wissen Sie, sie ist unsere geringste Sorge. Sie ist nicht der einzige Dämon in der Gegend. Hier wimmelt es von Türhütern, wie in jeder anderenStadt auch. Wir haben weder die Zeit noch das Personal, um uns um Gestalten wie Luciana Rossetti zu kümmern. Dämonen gehören zu dieser Stadt wie der Markusdom. Venedig ist eine Stadt des Göttlichen und des Profanen, eine Stadt der Schönheit und des Lasters. Hier findet man beides. Ich vermute, wir Veneziani haben einfach gelernt, damit zu leben.“
„Ich verspreche Ihnen, ich werde die Stadt von ihr befreien, bevor ich sie verlasse.“ Brandons Ton war barsch. „Wenn Sie es sich vorgenommen haben, Sie von hier fortzubringen, wünsche ich Ihnen viel Glück. Niemand wird es Ihnen übel nehmen, wenn Sie keinen Erfolg haben. Wenn Sie jetzt Ihre Sachen zusammenpacken wollen. Wir finden eine andere Übernachtungsmöglichkeit für Sie.“
Während er packte, sah sich Brandon im Zimmer um.
Das Bild von ihr, wie sie auf dem Fensterbrett stand, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Wie konnte sie entkommen? War sie real? War sie überhaupt hier gewesen? Brandon zermarterte sich sein Gehirn.
Das Bett war leer bis auf die zerknitterten Laken, die keinen Hinweis darauf gaben, wer hier gelegen hatte.
Nur auf dem Nachttisch stand noch immer das Gefäß mit den bunten Glassplittern, an denen ihr Blut klebte.
5. KAPITEL
D ie Turmuhr auf dem Markusplatz schlug drei Uhr. Luciana stolperte über den mittlerweile menschenleeren Platz. In der mondbeschienenen Lagunenstadt herrschte Stille. Venedig schlief nach den Feierlichkeiten.
Nur draußen am Lido würden die jungen Leute bis in den Morgen hinein weiterfeiern und zu Technobeats tanzen. In den vergangenen Jahren hatte sich Luciana ihnen angeschlossen, war in ein weiteres Jahr der Freiheit hineingetanzt, bis die Sonne strahlend und hell über der Adria aufging.
Eigentlich sollte sie ein weiteres Jahr als Dämonin feiern, ein weiteres Jahr voll wiedererstarkter Vitalität.
Ein weiteres Jahr voller Macht.
Aber heute Nacht feierte sie nicht.
Heute Nacht ist die Nacht meines Scheiterns, dachte sie, als sie den Weg nach Hause einschlug.
Zweihundertfünfzig Jahre lang war es ihr gelungen, am Tag des Erlöserfestes ein Opfer zu finden und abzuliefern. Dieses Jahr hatte Luciana Rossetti ihre Pflicht nicht erfüllt.
Einmal mehr war sie der Kompanie der Engel unterlegen.
Aber wenigstens lebe ich noch, dachte sie erleichtert. Und ich bin entkommen .
Ihre Hand pulsierte.
Der Daumen hing in einem seltsamen Winkel herunter. Wenigstens war es ein sauberer Bruch, und jetzt war sie frei. Was sich in diesem grauenhaften Pensionszimmer abgespielt hatte, lag nun hinter ihr.
Ein paar Nachzügler liefen jetzt betrunken grölend an ihr vorbei. Jeder Einzelne von ihnen wäre ein leichtes Opfer.
Doch im Moment hatte Luciana nicht einmal die Kraft, eine Fliege zu töten.
Sie hinkte barfuß nach Hause, ohne die Pflastersteine unter ihren Sohlen überhaupt wahrzunehmen. Bei ihrem Palazzoangekommen, schleppte sie sich mit letzter Kraft hinein. Blutbeschmiert und voller Schmerzen ließ sie sich in einen Sessel fallen und berührte
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