Im Bann der Dämonin
zucken.
Die Zeit stand still, eingefangen im Raum zwischen den zwei schwarzen Linien, die eine Sekunde von der nächsten trennt.
Und in dieser Sekunde zogen alle Erlebnisse seines mensch-lichen Daseins gebündelt an ihm vorüber.
Jedes Bild, das er jemals gesehen hatte, alle seine Erinnerungen strömten gleichzeitig auf ihn ein. Wie er bei seiner Geburt aus dem Körper seiner Mutter schlüpfte, in das kalte Licht eines Krankenhauszimmers. Er als Säugling und kleines Kind in einem heruntergekommenen Vorort von Detroit. Er mit seinen Brüdern raufend. Vorgärten mit rostigen Autos und hohem Unkraut. Seine Highschool-Liebe Tammy. Die Polizeiakademie. Seine Hochzeit. Ihre erste gemeinsame Wohnung. Wie sie sich am Nachmittag liebten.
All das ging ihm durch den Sinn und verließ ihn, als würde er rückwärts durch einen Tunnel gesaugt.
Und jetzt das.
Der Augenblick seines Todes war buchstäblich der schlimmste Moment seines Lebens. Er empfand Verlust, Sorge, Bedauern, Angst. Alles wirbelte durcheinander, wie bei einem dieser schwarzen Löcher im Weltall. Es war nicht in Worte zu fassen. Dieses Gefühl war so intensiv, dass er es nicht mit Sprache beschreiben konnte, die nicht einmal an der Oberfläche dieser Intensität zu kratzen vermochte.
Dieser Erfahrung von extremstem Leiden.
Genug für ein Leben, komprimiert in den letzten fliehenden Fetzen von Bewusstsein.
Was für eine beschissene Art zu sterben, dachte er.
Und das waren die letzten Gedanken, die er als Mensch hatte.
Dann zog es ihn in einer Spirale nach oben, und er trat aus seinen menschlichen Körper.
Als er nach unten schaute, erspähte er seine Überreste auf der Erde liegen, auf dem schmutzigen Asphalt in der dunklen Nacht, verblutend. Über seinem jetzt leblosen Körper kniete sein Mörder.
Brandon konnte nur den Rücken des Mannes sehen, während dieser sich über seine Leiche beugte und ihr etwas aus der Hand nahm. Der letzte Eindruck, den Brandon von seiner menschlichen Existenz bekam, war ein Akt absoluter Widerwärtigkeit. Der Killer hatte Brandon nicht nur das Leben genommen, sondern ihm auch seine verdammte Uhr gestohlen.
Glücklicherweise war das Brandon jetzt egal. Von seinem irdischen Körper losgelöst, schwebte er immer höher hinauf.
In das Licht hinein war er geboren worden. Jetzt war er tot und kehrte ins Licht zurück. Doch nicht ins Licht der Men-schenwelt. Nicht in ein kaltes Licht, sondern in das wärmste und Glück bringendste Licht, das er je erblickt hatte.
Er reckte sich, reckte sich nach oben, nach oben …
Um für einen einzigen, hellen, glorreichen Augenblick im Kosmos zu verweilen. Ein Moment so lang wie eine Ewigkeit und kürzer als ein Augenblinzeln. Und trotzdem wusste er, dass er nicht für immer hierbleiben konnte.
Noch nicht. Es gab noch etwas zu erledigen.
Und dann fiel er, stürzte in schwindelerregender Geschwindigkeit wieder in die Tiefe, schneller als jede Materie.
Denn er, Brandon, bestand plötzlich aus reinem Licht.
Er landete hart, und das Licht seiner Seele krachte förmlich wieder in seinen menschlichen Körper.
Er lag im Bett. Und erhob die Stimme zur Totenklage. Er beweinte das Leben, das er verloren hatte.
So wie immer, wenn er aus diesem Albtraum erwachte.
In den vergangenen zehn Jahren war er jede verdammte Nacht zitternd vor Angst aufgewacht.
Und dankte Gott dafür, dass es nur ein Traum gewesen war.
Denn als es das erste Mal geschah, war es kein Traum.
Damals war es echt gewesen .
Drei Uhr morgens.
Das zeigte die Uhr in seinem Schlafzimmer an.
Diese Uhr existierte in Wirklichkeit. Nicht im Traum.
Er schloss die Augen, um die Erinnerung an seinen Tod auszublenden. Brachte sich selbst ins Hier und Jetzt zurück. Holte tief Luft. Noch einmal. Er spürte die feuchten Laken unter sich, nass von seinem Schweiß. Das Adrenalin rauschte noch immer durch seinen Körper.
Er lag in der Dunkelheit seines Zimmers und ging alles noch einmal durch.
Er, Brandon Clarkson, war nicht mehr länger ein Mensch.
Aber er war einmal ein Mensch gewesen.
Zehn Jahre lag sein Tod als menschliches Wesen nun zurück. Wieso er Nacht für Nacht im Traum zur Szene seines Todes zurückkehrte, wusste er nicht. Er hätte es für einen Fluch gehalten, wäre er nicht als ein anderes Wesen wiedergeboren worden.
Als Engel.
Unsterblich, aber mit einem menschlichen Körper versehen. Mit denselben Problemen, unter denen man als normaler Mensch litt. Erschöpfung. Stress. Schlaflosigkeit.
Albträume.
Brandon
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