Im Bann der Dämonin
knipste die Nachttischlampe an und blinzelte, weil es schlagartig hell wurde. Dann stand er auf und lief durch seine Wohnung. Das schicke, moderne Loft in einem historischen Art-Nouveau-Gebäude hatte nichts mit der schmutzigen Gasse gemein, in der er gestorben war. Er ging zum Fensterund betrachtete den Fluss dreißig Stockwerke weiter unten, der in der heißen Juli-Nacht durch die sich spiegelnden Lichter der Stadt wie Gold glänzte.
Das war nicht der Detroit River, sondern der Chicago River.
Nicht Detroit, rief er sich in Erinnerung.
Nicht Detroit, wo er geboren worden war. Wo er gelebt hatte. Wo er gestorben war.
Ich bin in Chicago . Wo er jetzt als Schutzengel für die Kompanie der Engel arbeitete. Wo er zum Supervisor aufgestiegen war, mit einer eigenen Einheit, nachdem er seine Ausbildung in Los Angeles erfolgreich abgeschlossen hatte.
Chicago hatte nichts mit dem Leben zu tun, das er einmal als Mensch geführt hatte. Ewigkeiten trennten ihn davon.
In der Küche stellte er sich vor den Kühlschrank und las zum x-ten Mal den zehn Jahre alten Zeitungsausschnitt, den er dort hingehängt hatte. Sein menschliches Leben, herunterge-kürzt auf drei Zeitungsspalten, schwarze Tinte auf verbliche-nem Papier.
Polizist bei Bandenschießerei getötet .
Der achtundzwanzigjährige Polizist Brandon Clarkson wurde am Samstagabend während einer Ermittlung im Bandenmilieu in der Innenstadt von Detroit erschossen. Laut Polizeiangaben erlag er noch am Tatort seinen schweren Schussverletzungen .
Im Rahmen der Gedenkfeier im Campus Martius Park wurde Clarkson posthum in den Rang eines Detective erhoben. Sein Partner, Officer Jude Everett, wurde ebenfalls wegen „außergewöhnlicher Tapferkeit“ befördert, nachdem er den Mann festnehmen konnte, der Clarkson getötet hatte .
Clarkson war seit sieben Jahren bei der Polizei in Detroit. Er hinterlässt seine Eltern, drei Brüder und seine Frau Tammy .
Er las die Worte zum dreitausendsten Mal, und trotzdem stieg in ihm wieder Bitterkeit auf. Irgendwo tief in seinem Inneren brannte in ihm ein Gefühl, eine Ahnung, dass er nicht ausschließlich gut war. Nicht wie die meisten anderen Mitglieder der Kompanie, deren reinherzige Güte über jeden Zweifel erhaben war.
Sein Tod hatte in ihm eine Art von Wut ausgelöst, die er als Mensch nicht gekannt hatte.
Brandon Clarkson war mit einer beängstigend klaren Vorstellung davon, wie er leben wollte, geboren worden. Er kam auf die Welt und wusste, was er wollte.
Dienen und schützen.
Er lebte schnell und liebte intensiv. Und wenn er mit einer Mission auf die Welt gekommen war, dann hatte er die Welt im Dienste dieser Mission verlassen. Nun war er als Schutzengel zurückgeschickt worden, damit er weiter das tun konnte, was er immer getan hatte: Die gefährlichsten Verbrecher jagen und die korruptesten Personen festsetzen, ob Mensch oder Dämon. Und die beschützen, die sich nicht selbst schützen konnten.
Mittlerweile war ein Jahrzehnt vergangen.
Da war nur ein kleines Problem.
Der Albtraum.
Der Albtraum von seinem immer wiederkehrenden menschlichen Tod. Brandon kam sich schon vor wie eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Wie Sisyphos, der einen Felsblock einen steilen Hang hinaufrollen musste, jedes Mal aufs Neue. Oder wie Prometheus, zu dem jeden Tag der Adler kam und seine Leber fraß. Dazu verdammt, dasselbe höllische Schicksal immer und immer wieder zu erleben.
„Du musst loslassen“, hatten ihm seine Vorgesetzten, die Erzengel, schon etliche Male erklärt.
Allerdings konnte er das irgendwie nicht.
Nicht alle sterben jung, dachte er und wanderte ruhelos durch die Wohnung.
Er tat, was er immer tat, wenn er in Selbstmitleid zu ertrinken drohte. Er zündete mit einem Streichholz eine der Kerzen auf dem Couchtisch an. Arielle, seine ehemalige Supervisorin, hatte ihm gesagt: „Zünde eine Kerze an, wenn du deinen Ärger darüber loswerden willst, dass du dein menschliches Leben lassen musstest.“
Dreitausendachthundertvierundneunzig Kerzen später wartete Brandon immer noch darauf, dass sich sein nächtlicher Schmerz und Ärger endlich in Rauch auflösten. Kleiner wurden wie die unzähligen Wachsstängel.
Da vibrierte sein Mobiltelefon, das auf dem Esstisch lag, und lenkte seine Aufmerksamkeit von der gelben Flamme ab. Es war eine Nachricht vom Schutzpatron der Polizisten und Soldaten höchstpersönlich. Von Erzengel Michael, der nun sein direkter Vorgesetzter war. Die Worte, die er auf dem Display las,
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