Im Bann der Drudel (Auf der Suche nach dem magischen Buch) (German Edition)
hatte sie die Freunde eingeholt und beäugte sie misstrauisch. Timothy glaubte, eine Bellarin in ihr zu erkennen, die ihre langweilige Schönheit irgendwo in ihrer Jugend zurückgelassen hatte. Doch inzwischen war ihr Haar ergraut und das Leben schien ihr wenig Freude bereitet zu haben, denn die faltigen Mundwinkel zeigten nach unten, selbst wenn sie lächelte.
»Wie kann der Rat erwarten, dass eine Lemurin diese Bibliothek alleine führt?«, fragte sie mit ausladender Armbewegung. »Über fünfzigtausend Bücher … da bleibt unweigerlich manches liegen. Unweigerlich!«
»Wir verstehen nicht«, stammelte Dibs, während er mit seinem Finger in der Luft herumwedelte. »Wieso ist überall Staub? Wir schämen uns ganz fürchterlich für unsere Brüder. Wahrscheinlich Gelbglunze! Blauglunze hätten niemals …«
»Sehr vernünftig, sehr vernünftig, euren eigenen Glunz mitzubringen«, fiel die Bibliothekarin ihm ins Wort, jedoch ohne Dibs eines Blickes zu würdigen. »Ich musste sie alle fortscheuchen. Ist das möglich? Nicht mal mehr für Zucker reicht es noch. Nicht einmal für Zucker!«, ereiferte sie sich. Erregt stieß sie ihren Finger gegen die Brille.
Timothy spürte, wie sich der feuchte Staub auf seine Lungen legte, und hustete. Daraufhin erhob sich unter hohen Pfeifen eine schwarze Wand von der Decke, stob flatternd auseinander und schoss über seinen Kopf hinweg zum Tor.
»Gargoyle!«, rief er erschrocken.
»Oh – nein nein nein. Hier ist es viel zu langweilig für Gargoyles!«, belehrte ihn die Bibliothekarin. »Seit sie unsere Laternen nicht mehr nachfüllen, haben sich Flughunde hier eingenistet. Fürchterliche Viecher. Kleine, spitze Zähne und böse Augen – wirklich böse Augen! Machen überall hin. Hier, wieder!«, kreischte sie hysterisch. »Genau vor meine Füße!«
Timothy sah nach unten, konnte jedoch nur schemenhaft ein schmales Rinnsal ausmachen, das dunkel glänzend im Dreck versickerte. Daneben lagen achtlos verstreute Pergamentseiten zwischen umgestürzten Regalen, zerbrochenen Tintenfässern und lose zusammengeschobenen Bücherstapeln.
Eigentlich war Timothy klar gewesen, dass es nicht so leicht werden würde, etwas Brauchbares zu finden, auch wenn er insgeheim die Hoffnung hatte, etwas wie »Die Drudel und ihre Bedeutung« oder »Die Geschichte der Drudel« zu entdecken, zumindest aber ein Nachschlagewerk über die Entstehung des Lemurischen Reiches. Aber beim Anblick dieses Durcheinanders schwanden seine letzten Hoffnungen.
Während Loo und Avy der Bibliothekarin ungeduldig folgten, gab sich Timothy alle Mühe, ihr eintöniges Gezeter zu überhören.
Irgendwo vernahm er Flügelschlagen, und im Zwielicht der Via Libre meinte er plötzlich den Schatten einer geduckten Gestalt zu erkennen. Aufmerksam kniff er die Augen zusammen.
Dicke Vorhänge verhüllten die hohen Fenster, und außer einem Glas mit Glühwürmchen, das die Bibliothekarin bei sich trug, waren die wenigen Laternen der Via Libre die einzige Lichtquelle.
»Seit mein Gatte von uns gegangen ist, muss ich in einigen Teilen den Überblick verloren haben. Erst neulich habe ich …«, hörte Timothy sie gerade sagen, als sich der Schatten streckte und ein Mann aus dem Zwielicht in das Innere der Bibliothek trat. Er war in einen grauen Umhang gehüllt, der seinen buckligen Rücken kaum zu verbergen mochte.
Timothy stupste Loo an. Mit dem Kinn deutete er zu dem Fremden. »Ich könnte schwören, dass er sich irgendwie verwandelt hat …«
Loo zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein Vine.«
Die Bibliothekarin folgte ihrem Blick. »Was suchtet ihr noch gleich?«, fragte sie, mit einem weiteren Kunden anscheinend vollkommen überfordert.
»Etwas über das Lemurische Reich. Wir wollen herausfinden, welches die erste –«, meinte Avy, doch die Bellarin hatte ihr schon den Rücken zugekehrt und murmelte: »Wir haben hier nur Bücher – nur Bücher!«, rief sie aufgeregt, während sie auf die Gestalt am Tresen zusteuerte.
»Du gütige Wurzel!« Avy verdrehte die Augen. »Die hat ja nicht mehr alle Ringe auf dem Lex.«
Timothy sah immer noch misstrauisch zu dem mausgrauen Kunden am Tresen hinüber. »Avy, hast du das gesehen? Ich glaube, dass er sich verwandelt hat. Irgendwie von klein auf groß. So als sei er gewachsen …«
»Wahrscheinlich ein Vine«, sagte Avy abwinkend und sah sich kopfschüttelnd um. »Es muss Decencien her sein, seit ich das letzte Mal hier war. Ich möchte wissen, warum der Rat ihr die Mittel
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