Im Bann der Dunkelheit
habe, bin ich noch bei Charlie Dai vorbeigefahren.«
Charlie Dai - dessen Geburtsname in richtigem Vietnamesisch, bevor er ihn amerikanisiert hat, Dai Tran Gi lautete - ist der Mitherausgeber und Chefreporter der Moonlight Bay Gazette, der Zeitung, die Bobbys Eltern gehört. Die Halloways haben sich wie gesagt von Bobby entfremdet, aber Charlie ist sein Freund geblieben.
»Charlie soll zwar nichts über Lillys Jungen schreiben«, fuhr Bobby fort, »zumindest nicht, bis er grünes Licht bekommen hat, aber ich hab gedacht, er sollte davon wissen. Eigentlich... hab ich gedacht, daß er es schon weiß.«
Charlie gehört zu der Handvoll Leute in Moonlight Bay ein paar hundert von zwölftausend ., die davon wissen, daß es in Wyvern zu einer biologischen Katastrophe gekommen ist. Seine Frau, Dr. Nora Dai - ehemals Dai Minh Thu-Ha - ist inzwischen Colonel im Ruhestand. Als sie noch im Medical Corps der Army war, unterstanden ihr sechs Jahre lang sämtliche medizinischen Einrichtungen in Fort Wyvern, was auf einem Stützpunkt mit über fünfzigtausend Soldaten eine beträchtliche Verantwortung bedeutete. Ihr medizinisches Team hatte in der Nacht, in der einige Forscher im gentechnischen Labor eine Krise im geheimgehaltenen Prozeß des Werdens erreicht und ihre Kollegen mit einem brutalen Angriff überrascht hatten, die Verletzten und Sterbenden versorgt. Nora Dai wußte zuviel, und innerhalb weniger Stunden nach diesen seltsamen Vorkommnissen hatte man sie und Charlie mit der Anschuldigung konfrontiert, ihre - immerhin schon vor sechsundzwanzig Jahren besiegelten - Einwanderungspapiere seien gefälscht, was aber an den Haaren herbeigezogen war. Wenn sie nicht dabei mitwirkten, die Wahrheit über die Katastrophe in Wyvern und ihre Folgen zu vertuschen, würde man sie ohne Vorwarnung und ohne die üblichen rechtlichen Verfahren zurück nach Vietnam deportieren, von wo aus sie niemals zurückkehren könnten. Auch das Leben ihrer Kinder und Enkelkinder wurde bedroht; die Leute, die diese Vertuschung organisierten, machten keine halben Sachen. Bobby und ich hatten keine Ahnung, warum seine Eltern zugelassen hatten, daß auch die Gazette korrumpiert wurde und nur noch sorgfältig zurechtgestutzte Lokalnachrichten veröffentlichte. Vielleicht waren sie der Ansicht, es sei richtig, die Sache geheimzuhalten. Vielleicht war ihnen das wahre schreckliche Ausmaß des Geschehens nicht klar. Vielleicht hatten sie einfach auch nur Angst.
»Sie haben Charlie zum Schweigen gebracht«, sagte Bobby, »aber in seinen Adern fließt noch immer Druckerschwärze, er hört noch immer so einiges und sammelt Nachrichten, ob er nun darüber berichten darf oder nicht.«
»Er ist genauso versessen auf Zeitungspapier wie du auf das Brett«, sagte ich.
»Stimmt, er ist eine absolute Nachrichtenratte«, sagte Bobby.
Er stand vor einem der beiden kleinen Fenster neben der Haustür: rechteckige Scheiben aus Buntglas mit geometrischen roten, grünen und klaren Elementen. Da die Veranda sehr tief und überdacht war und die riesigen Eichen verhinderten, daß direkte Sonnenstrahlen die Fenster erreichten, wurden sie nicht von Jalousien bedeckt.
»Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »habe ich mir gedacht, wenn Charlie das mit Jimmy hört, erzählt er mir vielleicht auch etwas, was wir noch nicht wissen. Vielleicht hat er ja etwas von Manuel oder sonstwem aufgeschnappt. Aber auf das, was er mir dann tatsächlich erzählt hat, war ich nicht vorbereitet. Jimmy war letzte Nacht nur einer von dreien.«
Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Drei Kinder sind entführt worden?« sagte Sasha.
Bobby nickte. »Die Zwillinge von Del und Judy Stuart auch.«
Del Stuart hat ein Büro am Ashdon College und ist amtshalber beim Kultusministerium angestellt, obwohl man munkelt, daß er in Wirklichkeit für eine obskure Abteilung des Verteidigungsministeriums arbeitet beziehungsweise für die Umweltschutzbehörde oder gar für das Bundesministerium zur Überwachung der vorgeschriebenen Größe von Doughnuts. Diese Gerüchte hat er wahrscheinlich selbst verbreitet, um die Spekulationen von Möglichkeiten abzulenken, die der Wahrheit viel näher kommen. Er gibt sich als Drittmittelbeschaffer aus, eine Bezeichnung, die so trügerisch klingt, als würde man zu einem gedungenen Mörder Spezialist für die Beseitigung von organischem Abfall sagen. Offiziell hat er die Aufgabe, die Berichte jener Professoren, die durch Bundesmittel finanzierte Forschungen betreiben, weiterzuleiten
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