Im Bann der Dunkelheit
gesamten Stützpunkt durch Treppen, Fahrstühle und Tunnels miteinander verbunden, die nicht so leicht zu entdecken waren, bevor man sämtliche Vorräte und Ausrüstungsgegenstände entfernt hatte, nachdem die Anlage aufgegeben worden war.
Obwohl die scheidenden Verwalter einige von Fort Wyverns Geheimnissen entblößt zurückgelassen hatten, wären meine besten Entdeckungen nicht ohne die Hilfe meines klugen vierbeinigen Begleiters möglich gewesen. Seine Fähigkeit, selbst die schwächsten Duftnoten zu entdecken, die durch Spalten aus verborgenen Räumen wehen, ist mindestens genauso beeindruckend wie sein Talent, auf einem Surfbrett über die Wellen zu gleiten, wenn auch andererseits vielleicht nicht ganz so beeindruckend wie seine Begabung, seinen Freunden - mir zum Beispiel - ein zweites Bier abzuschwatzen, obwohl sie ganz genau wissen, daß er nur eins vertragen kann.
Zweifellos beherbergt dieser weitläufige Stützpunkt noch weitere Einrichtungen, die gut verborgen geblieben sind und erst noch entdeckt werden müssen. So interessant meine bisherigen Erkundungen auch gewesen sein mochten, es gibt immer wieder Phasen, in denen ich auf solche Expeditionen verzichte. Wenn ich zuviel Zeit in dem Schattenland unter Fort Wyvern verbringe, empfinde ich die bedrohliche Atmosphäre dort als bedrückend. Ich habe genug gesehen, um zu wissen, daß diese Unterwelt der Sitz weitreichender geheimer Operationen gewesen ist, wo zweifelhafter Gelehrsamkeit gefrönt wurde, daß man hier die verschiedensten, mit Schwarzgeld finanzierten Forschungsprojekte durchgeführt hat, wobei einige dieser Projekte so ehrgeizig und exotisch gewesen sind, daß die wenigen rätselhaften Hinweise, die man nicht beseitigt hat, nur unzureichende Rückschlüsse auf ihren Sinn zulassen.
Doch nicht allein dieses Wissen ist Schuld daran, daß ich mich in der Unterwelt von Wyvern unbehaglich fühle. Noch bedrückender ist eine ganz bestimmte Wahrnehmung, kaum mehr als eine Intuition, aber trotzdem ein sehr starkes Gefühl: Bei einem Teil von dem, was hier geschehen ist, handelt es sich nicht nur um eine wenn auch gutgemeinte Torheit hochgradiger Natur, nicht bloß um Wissenschaft im Dienst einer verrückten Politik, sondern um reine Verderbtheit. Wenn ich zu viele Nächte hintereinander unter Fort Wyvern verbringe, überkommt mich die Überzeugung, daß Ausprägungen eines unbekannten Bösen in diesem Labyrinth unter der Erde freigesetzt wurden und einige davon noch durch diese Seitenwege streifen und darauf warten, entdeckt zu werden, Dann treibt mich nicht die Furcht an die Oberfläche. Es ist eher das Gefühl, moralisch und spirituell erstickt zu werden - als würde, wenn ich zu lange in diesen Gefilden verweile, meine Seele mit einem nicht mehr zu tilgenden Fleck beschmutzt werden.
Ich hatte anfänglich nicht damit gerechnet, daß diese ganz normalen Lagerhäuser so direkt mit den Koboldgefilden unter der Erde verbunden waren. In Fort Wyvern ist aber nichts so einfach, wie es zuerst den Anschein hat.
Da ich nun einigermaßen davon überzeugt war, daß der Kidnapper - falls er überhaupt derjenige war, dem wir auf der Spur waren - sich nicht auf dieser Etage des Gebäudes aufhielt, schaltete ich die Taschenlampe wieder ein.
Es kam mir seltsam vor, daß ein Psychopath sein kleines Opfer hierher und nicht zu einem persönlicheren und privateren Ort brachte, an dem er seine perversen Bedürfnisse völlig ungestört ausleben konnte. Andererseits strahlte Wyvern eine geheimnisvolle Faszination aus, die sich mit der von Stonehenge vergleichen ließe, mit der Anziehungskraft der großen Pyramide von Gizeh oder der Maya-Ruinen von Chichen Itza. Einen Geistesgestörten, bei dem sich, wie es bei diesen Fällen so häufig vorkommt, der stärkste Nervenkitzel nicht etwa einstellt, wenn er sein unschuldiges Opfer sexuell belästigt, sondern wenn er es foltert und dann brutal ermordet, sprach Wyverns bösartiger Magnetismus bestimmt an.
Dieses seltsame Gelände würde auf ihn eine genauso starke Anziehung ausüben wie eine entweihte Kirche oder ein verfallendes altes Haus am Stadtrand, in dem vor fünfzig Jahren ein Verrückter seine Familie mit einer Axt in Stücke gehackt hat.
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, daß dieser Kidnapper gar nicht verrückt, gar kein Perverser war, sondern in einer bizarren, aber nichtsdestotrotz offiziellen Funktion in einem Bereich von Fort Wyvern arbeitete, der vielleicht insgeheim weiterhin betrieben wurde.
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