Im Bann der Engel
»Jetzt«.
Plötzlich brach die Hölle los. Schüsse hallten auf dem Friedhof. Die zusammenstehende Menschenmenge war umzingelt und hatte keine Chance, dem Gefecht zu entkommen. Zwei Kämpfende stürzten in eine der offenen Gruben. Neben Amenatos brach ein Mann zusammen, dessen Brustkorb von einem gewaltigen Hieb geöffnet worden war. »Gebt auf die Flügel Acht!«, brüllte Amenatos. Tatsächlich setzten die Engel ihre Metallflügel als Waffen ein. Die Kanten waren scharf und die Flügel selbst besaßen eine erstaunliche Wucht, wenn sie entfaltet wurden.
Elena suchte nach Madame Hazard, die sich zurückgezogen hatte. Sie erspähte sie neben Raventu. Er trug ebenfalls eine Maske, aber Elena hätte ihn unter Tausenden erkannt. Die arrogante Art, wie er dastand und selbstzufrieden auf das Gemetzel blickte, ganz so, als sei es sein Verdienst. Neben Elena brach ein Mann in die Knie, in den Händen hielt er ein Jagdgewehr. Elena zögerte nicht lange, nahm das Gewehr an sich, lud es durch und zielte auf Raventu.
Vielleicht existierte das Band zwischen ihnen noch, möglicherweise war es Zufall, aber als Elena gerade den Abzug betätigen wollte, traf sie Raventus Blick. Es war, als würde ihr Schädel jeden Moment bersten wollen. Der Engel parodierte eine Verbeugung und breitete sogar die Arme aus, lud Elena geradezu ein, ihn zu erschießen. Sie zwang ihren Zeigefinger, sich fester um den Metallhebel zu legen. Spöttisch verzogen sich Raventus Mundwinkel. Er schüttelte gespielt missbilligend den Kopf, raunte Madame Hazard etwas zu und setzte sich in Bewegung. Elena hatte freie Schussbahn. Sie biss sich vor Anstrengung so fest auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. Raventu ließ sich Zeit, verpasste einem Mann, der sich ihm in den Weg stellte, einen brutalen Fausthieb und vergewisserte sich, dass Elena dem Schauspiel folgte. Aus einer Grabvase nahm er eine Blume und setzte seinen Weg fort. Elenas Hände zitterten nun so stark, dass sich der Lauf des Gewehrs Stück für Stück senkte, dann entglitt ihr die Waffe. Elena schluchzte auf und fand nicht einmal mehr die Kraft, sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Sie sank hilflos auf die Knie.
»Eigentlich sind es Totenblumen. Aber irgendwie gefallen sie mir«, sagte Raventu, als er bei ihr angelangt war, und steckte Elena die Lilie ins Haar. Dann hob er das Gewehr auf und warf es achtlos in eines der offenen Gräber. Als nächstes nahm er die silberne Maske ab. Er setzte sich neben Elena auf den Boden und sah mit gerunzelter Stirn zum Kampfgetümmel, das sich glücklicherweise gerade nicht bei ihnen entlud. »Ich nehme an, ich habe das Spiel gewonnen, oder siehst du das anders?«
»Lass mich in Ruhe«, keuchte Elena. Sie hielt sich den Kopf, dennoch nahm das Schwindelgefühl immer mehr zu. Es war, als sauge Raventu das letzte Quäntchen Leben aus ihr heraus.
Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und zwang sie, ihn anzusehen. »Ich bin ein wohlwollender Spieler. Daher darfst du dir aussuchen, ob ich dich töten soll oder ob du deine Spielschulden bei mir abarbeiten möchtest.«
Elena schloss resigniert die Augen. Spielschulden abarbeiten. Was konnte das bei einem miserablen Kerl wie Raventu wohl bedeuten. Elena wagte sich nicht auszumalen, was er ihr alles antun würde. Hoffnungslosigkeit schnürte ihr die Kehle zu.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, wollte er wissen und stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. Elena zuckte zusammen. Ihr Herz begann wie wild zu rasen. Raventu griff in Elenas Haar und riss ihren Kopf zurück. Brutal presste er seine Lippen auf ihre. Seine Zunge drängte sich zwischen ihre Zähne und zwang sich in ihren Mund. Elena wimmerte.
Raventu ließ von ihr ab. Die Kampfgeräusche bildeten mit Raventus erregtem Atmen eine unerträgliche Kakophonie. Sie glaubte, jeden Moment wahnsinnig zu werden. Sie spürte Raventus Unberechenbarkeit, wusste um seine Brutalität. Weit hinten auf dem Friedhof meinte sie, Amenatos zu erspähen. Sicher war sie sich allerdings nicht, zudem fehlte ihr jede Kraft, zu rufen.
Raventu erhob sich, packte Elena am Arm und riss sie hoch. Seine Berührung gab ihr etwas Kraft zurück, der Schwindel ließ ein wenig nach. Dennoch taumelte sie, fiel beinahe in ein offenes Grab. Losgetretene Erde rieselte auf den Sarg. Elenas Blick fiel auf das wunderbar geschmiedete Kreuz, das auf einem schweren Sockel auf dem Sarg thronte. Die Spitze war geschliffen und ausnehmend schlank.
Elena stemmte sich gegen Raventus Griff. Der
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