Im Bann der Leidenschaften
Büsche und Gestrüpp überstehen. Trotzdem bin ich froh über die Bewegung. Insbesondere weil Jerômes Parfüm meine Nase umschmeichelt. Obwohl ich alles andere als sportlich bin, könnte ich jetzt sogar rennen. Ich gehe ein paar Schritte schneller. Auch Jerôme erhöht das Tempo. Ich will so schnell wie möglich raus aus diesem engen, zugewachsenen Gang, in die Sonne, unter Leute. Blöderweise kenne ich mich im Park nicht besonders aus. Ein paarmal war ich mit Philippe hier. Einmal, um den Eifelturm bei Tag zu besichtigen, ein anderes Mal, um den Eifelturm bei Nacht zu besichtigen, und ein drittes Mal, um auf die Aussichtsplattform des Eifelturms zu fahren. Dabei sind wir durch den Park spaziert. Das war’s. Niemals haben wir die breiten Spazierwege verlassen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass es neben all den überdimensionierten Wegen in Paris, auch noch ganz normale, kleine Wanderwege gibt. Insbesondere hätte ich niemals mit einer Sackgasse gerechnet.
Jerôme steht da und sieht mich mit ausdrucksloser Miene an.
„Scheiße“, entfährt es mir. Ich wende mich zum Gehen. Blitzschnell fasst er mich am Arm. So wie heute Mittag bei Olivier’s. „Au“, schreie ich, obwohl es weniger weh tut, als vielmehr prickelt. Ich entziehe ihm meinen Arm. Dieses Mal lässt er mich. Im gleichen Moment vermisse ich die Berührung. Es wird allerhöchste Zeit, dass ich diese Begegnung hinter mich bringe. Ich atme tief durch. „Also gut. Was hast du mir zu sagen? Mach bitte schnell. Ich habe nicht den ganzen Nachmittag Zeit. In einer Viertelstunde kommen meine Freundinnen hierher“, lüge ich.
„Mir hat das in der vergangenen Nacht gefallen“, sagt er mit rauer Stimme. „Ich würde es gern wiederholen.“
„Das hast du mir bereits in deiner ersten Nachricht geschrieben.“ Meine Stimme ist eisig. „Ich würde dich gern wachküssen, Dornröschen. Allerdings nicht erst in hundert Jahren. J. C.“, rezitiere ich den Text. Dieses Mal trieft meine Stimme vor Spott. Ich habe gar nicht gewusst, was für eine Schauspielerin in mir steckt. „Verrate mir mal was Neues.“
In diesem Moment macht er einen Schritt nach vorn. Jetzt steht er direkt vor mir. Zwischen uns ist weniger als eine Handbreit Platz. Seine Präsenz raubt mir den Atem. Er überragt mich um einen Kopf. Noch nie war ich so eng mit einem Mann zusammen, der so viel größer ist als ich. Normalerweise bin ich mit meinen einhundertsechsundsiebzig Zentimetern genau so groß wie die meisten Männer. Ich bin es gewöhnt, mit kleineren Männern zu reden oder sonstwie mit ihnen zusammen zu sein. Sonst hätte ich bei meinem Gardemaß kaum Auswahl. Auch Philippe ist nur wenig größer als ich. Alle meine bisherigen zwei Freunde hatten meine Größe. Bisher hat mir das nichts ausgemacht. Ich wusste ja nicht, wie erregend es sein kann, von einem Mann überragt zu werden. Und mich außerdem zierlich zu fühlen, denn so fühle ich mich in Jerômes Gegenwart. Zierlich. Ich muss zugeben, dass das meinem Selbstbewusstsein gut tut. Tief atme ich Jerômes Duft ein.
Ohne die Hände nach mir auszustrecken, beugt er sich zu mir hinunter. Seine Augen scheinen mir ins Gehirn zu blicken. In dem schattigen Licht der Bäume und dichten Sträucher, die uns umgeben, schimmern seine Augen tiefschwarz. Sanft fährt sein rechter Daumen über meine Lippen. Jetzt müsste ich eigentlich zurückweichen und rennen. Lauf Annie, schreit mein Gewissen, lauf! Doch ich stehe da wie angewurzelt, meine Arme hängen schlaff zu beiden Seiten meines Körpers herunter. Er umfasst meine Hände, die in seinen wie die Hände eines Kindes wirken. Ich fühle, wie sich meine Nippel aufstellen, die noch von seinen saugenden Lippen in der vergangenen Nacht brennen.
„Sag, dass ich gehen soll“, raunt er in mein Ohr.
Seine raue Stimme wandert direkt von meinem Ohr in meinen Bauch. Ein Kribbeln ergreift von meinem Körper Besitz, als er mit der Zunge die Form meines Ohrs nachzeichnet. Dann taucht er mit seiner feuchten Zunge in meine Ohrmuschel ein. Sämtliche Härchen auf meinem Körper richten sich auf. Ein Stöhnen entfährt meiner Kehle und ich lege meinen Kopf leicht in den Nacken. Seine Zunge verlässt mein Ohr und schlängelt sich im Zeitlupentempo an meinem Hals hinunter.
„Ich heirate morgen“, stöhne ich.
„Sag einfach nein“, entgegnet er rau, öffnet die beiden Knöpfe an meinem Kleid, zieht den Stoff zur Seite und küsst meine linke Schulter.
„Mehr als zweihundert Gäste sind
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