Im Bann der Leidenschaften
eigene Achse und lasse meinen Blick schweifen. Die Ankunftshalle ist gerammelt voll, Stimmengewirr umgibt mich. Selbst wenn mich jemand verfolgt, unter all den Menschen würde ich ihn wohl kaum entdecken – außer der Verfolger wäre Jerôme. Aber der würde bei seiner Größe selbst hier auffallen. Und wer sonst sollte mich verfolgen? Einen Detektiv wird Philippe mir sicher nicht an die Fersen geheftet haben. Also gebe ich es auf, mir den Kopf über ein Hirngespinst zu zerbrechen.
Beim Lesen der Ankunftstafel werde ich wehmütig. Meine Eltern sind über New York geflogen. So wohl ich mich in Paris fühle, so sehr vermisse ich besonders meine Mutter. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht jetzt schon zu weinen. Die Maschine befindet sich im Landeanflug. Also habe ich noch ein wenig Zeit. An einer der vielen Buden hole ich mir einen Kaffee, der wie Spülwasser schmeckt. Noch einmal versuche ich, über mein Leben nachzudenken, ob das, was ich getan, beziehungsweise zweimal getan habe, vertretbar ist. Aber dieses Denken kann ich mir schenken. Ich kann es drehen und wenden wie ich will. Was ich getan habe ist das Allerletzte. Man hintergeht seinen Liebsten nicht, niemals! Aber wenn es ein falsches Timing für Betrügereien gibt, dann habe ich mir das absolut verkehrteste dafür ausgesucht.
In dem Moment fährt die zweiflügelige Schiebetür der Abflughalle auf und meine Mama marschiert hindurch, gefolgt vom Rest der Familie. Mir graut es vor dem Begrüßungsmarathon. Warum müssen amerikanische Hochzeiten bloß so gigantisch sein?
„Annie!“, brüllt meine Mutter durch die Ankunftshalle. Sie übertönt alles. Auch mein grauenhaftes Gedankenkarussell. Dafür verdient sie einen Extra-Kuss. Mama hat mich sofort entdeckt. Sie drückt ihren Koffer meinem Vater in die Hand und rennt mit ihren Trampelgang, den ich von ihr geerbt habe, zu mir, umarmt mich, drückt mich, herzt mich, küsst mich. Wir weinen und lachen um die Wette. Es tut so gut, Mama hier bei mir zu haben. Sie ist so schön warm und weich.
„Kind, was ist los mit dir?“, flüstert sie mir ins Ohr, als wir in dem Reisebus sitzen, den die Leute von der Hochzeitsplanungsagentur eigens für meine 84-köpfige Verwandtschaft gebucht haben.
Der Blick einer Mutter! Mamas Scharfsichtigkeit macht mich sprachlos und treibt mir zugleich erneut die Tränen in die Augen. Was soll ich ihr sagen? Dass mir ein Hotelbesitzer gestern in einem Pariser Club einen Orgasmus beschert hat? Oder dass besagter Hotelbesitzer mich heute im Eifelturm-Park gefickt hat? Oder gleich beides? Und als Zugabe die frohe Botschaft, dass ihre Tochter neuerdings innerhalb weniger Minuten zum Orgasmus kommt, während sie in all den Jahren davor wenig bis nichts gespürt hat. Außer bei Philippe, dessen ausgetüfteltes Ritual sie innerhalb von acht bis zwölf Minuten auf die Palme der Lust treibt. Nichts davon dürfte das Mutterherz erfreuen.
„Ich würde dir und Papa gern unsere Wohnung zeigen. Euer Hotel befindet sich gleich bei uns um die Ecke. Na ja, zehn Minuten Fußweg, aber das ist ja nichts nach den vielen Stunden Stillsitzen im Flugzeug. Hast du Lust?“
Meine Mutter fällt mir um den Hals und fängt wieder an zu weinen. „Natürlich, mein Schatz! Wenn ich ehrlich bin, hatte ich erwartet, dass du uns zu euch einlädst. Ich will doch sehen, wo meine kleine Annie wohnt! Oh, Annie! So sehr ich dir dein Glück gönne, so sehr vermissen wir dich! Papa auch. Er kann es nur nicht so zeigen. Sei ihm also nicht böse.“
Ergriffen schüttele ich den Kopf. Bin ich nicht. Mein Vater macht nicht viele Worte, aber er ist eine Seele von Mensch. Wie Philippe.
„Philippe werdet ihr heute nicht mehr begegnen“, sage ich schnell, um nicht allein beim Gedanken an meinen Bräutigam, und das, was ich ihm angetan habe, in Tränen auszubrechen. „Er kehrt erst gegen Mitternacht aus Dubai zurück.“
Meine Mutter runzelt die Stirn. „Vielleicht bin ich altmodisch, aber findest du das normal, dass dein Zukünftiger zwei Tage vor der Hochzeit nach Dubai fliegt?“
Nein, wenn ich ehrlich bin, finde ich das ganz und gar nicht normal. Aber das, was ich angestellt habe, ist es noch weniger. Leider kann ich darüber nicht sprechen. Meine Mutter, die Dramen nur aus dem Fernsehen kennt, würde durchdrehen. „Der Fototermin steht seit Monaten fest.“
„Dann hätte ich den Hochzeitstermin aber anders gelegt.“
„Ach“, seufze ich, „es ging doch alles so schnell.“
„Ja“, nickt meine
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