Im Bann der Liebe
sich danach lange in der Küche aufhielt, Maisies frischen Kaffee genoss und mit ihr sprach. Maisie zeigte sich ihrerseits freundlich, aber nicht einladend, schließlich hatten sie und Zacharias einander auch gerade erst entdeckt. Susannah ging wieder nach oben, um weiter Julias Sachen aufzuräumen.
Aubrey war gleich nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen und hatte Ethan mit sich genommen. Susannah hoffte, dass sie im Laden oder auf einem Treffen mit Mr. Hollister waren, um Ethans Verteidigung zu besprechen, aber sie fürchtete etwas ganz anderes. Beide waren davon überzeugt, dass Mrs. Parker von den Männern umgebracht worden war, die sie selbst angeheuert hatte, und das ließ vermuten, dass sie sich noch immer in einem der zahllosen, gut besuchten Etablissements an Seattles geschäftigem Hafen aufhielten. Sie würde es Mann und Schwager durchaus zutrauen, auf eigene Faust dort Nachforschungen anzustellen.
Susannah arbeitete, bis nichts mehr zu tun war. Nur noch Julias Briefe und das Tagebuch waren übrig. Da Victoria schlief, rollte sie sich auf dem Ehebett zusammen und nahm den ersten Umschlag auf.
Darin befanden sich ihre eigenen Briefe an Julia, völlig zerlesen und mit einem gelben Band zusammengebunden. Dieses Zeichen, dass Julia die Briefe etwas bedeutet hatten, trieb Susannah die Tränen in die Augen. In jenen unschuldigen Tagen, als sie Julia aus Nantucket geschrieben hatte, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einander nie wieder sehen würden. Sie hatte gedacht, dass sie zusammen alt werden und Erinnerungen austauschen könnten.
Plötzlich konnte Susannah es keinen Moment länger ertragen, im Haus eingesperrt zu sein. Sie suchte Ellie und bat sie, auf Victoria aufzupassen. Dann zog sie Julias Umhang an und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Einige der Plakate, auf denen sie ihren Klavierunterricht anbot, flatterten noch immer an den Telegrafenmasten. Der Anblick stimmte Susannah ein wenig traurig. Jetzt, wo sie mit Aubrey verheiratet war, würde dieses Einkommen sicher versiegen, denn die Hauptzahl ihrer Schüler waren Verehrer gewesen. Sie würde das Unterrichten vermissen und auch kein eigenes Geld mehr verdienen.
Susannah ging am Laden vorbei. Sie war sich sicher, dass Aubrey nicht dort war, also ging sie weiter zum Wasser. Der Hafen zog sie unwiderstehlich an, ohne dass sie hätte sagen können, warum.
In der Elliott-Bucht lagen Schiffe, die an verschiedenen Molen festgemacht waren. Seeleute aus allen Ländern verluden Kisten, Fässer, Truhen und Säcke. Ein paar warfen Susannah neugierige Blicke zu, als sie vorbeiging, aber sie beachtete sie nicht.
Sie hatte einmal gelesen, dass man so am besten mit aufdringlichen Männern verfuhr. Wenn man sie zur Kenntnis nahm, ermutigte sie das nur in ihrem Tun.
Aubrey sah sie nicht, aber sie suchte ja auch nicht nach ihm. Tatsächlich war er der Letzte, dem sie jetzt begegnen wollte. Sie war sich sicher, dass es am Hafen wichtige Geheimnisse aufzudecken gab, wenn sie nur die Augen aufhielt. Hier hatte Ethan an Bord eines Dampfers sein verderbliches Zusammentreffen mit Delphinia gehabt, und wer immer sie getötet hatte, hatte ihre Leiche hier ins Wasser geworfen. Irgendwo hier musste die Wahrheit verborgen sein.
Es war laut und stank nach verfaultem Fisch, Seegras, Ebbe und dem Schweiß der Arbeiter, sodass Susannah sich ein Taschentuch vor die Nase pressen musste. Sie wusste gar nicht, was sie suchte, aber dennoch ging sie weiter.
Flüche hallten durch die Luft, als sie an den Arbeitern vorbeiging, sie nahm es ihnen jedoch nicht übel. Sie wusste, dass sie nicht ihr galten. Sie war schon eine Weile gelaufen, als sie einen Ruf hörte. Ethan stand mit geballten Fäusten auf einem Kistenstapel. Ein Chinese forderte ihn heraus.
»Weißer Teufel!«, rief der kleine Mann. »Frauenschänder!« Dann folgte ein Strom von so üblen Beschimpfungen, dass Susannah den Eindruck hatte, am Tor zur Hölle zu lauschen.
Ethan regte sich nicht. Plötzlich wusste Susannah mit Sicherheit, dass er nichts mit Mrs. Parkers Tod zu tun und auch nie versucht hatte, sich ihr aufzuzwingen. Wenn er es getan hätte, hätte er nie solche Beschimpfungen hingenommen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.
Ein bärtiger Mann ließ seine Arbeit liegen, um zu fragen: »Lassen Sie sich das gefallen, Fairgrieve? Ich schlage vor, dass Sie den kleinen Bastard ertränken.«
Die Zuschauer gaben jubelnd ihre Zustimmung, und Susannah erschrak vor dem blanken Hass der Menge.
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