Im Bann der Lilie (Complete Edition)
gibt einen besseren Weg, euch vorläufig aus der Reichweite des Marquis zu bringen: Ihr versteckt Euch an Bord der MARY STUART . Der Kapitän ist ein guter Freund von mir. Er bringt Euch nach Dover. Die Fahrt über den Ärmelkanal ist bei gutem Wind und ruhiger See nur kurz. Geht ins Kingdom Pride und fragt dort nach Lionel. Er besitzt ein geräumiges Lager und wird Euch in seinem Weinkeller verbergen. Ihr habt dort nichts zu befürchten, solange Ihr keine Leichen hinterlasst.“
Der letzte Satz war als Warnung zu verstehen, nicht aufzufallen während ihres Aufenthaltes.
Marcel und Silvio zögerten, stimmten dann aber zu. Die Hauptsache war doch, sie konnten zusammenbleiben.
„Sobald ich etwas herausgefunden habe, was Euch weiterhelfen könnte, sende ich eine Brieftaube zu Lionel. Offiziell seid Ihr Rebellen auf der Flucht vor Napoleon. Denkt daran: Ihr dürft Euer wahres Naturell auf keinen Fall verraten.“
Townsend griff nun in seine Jackentasche und übergab dem Chevalier einen Geldbeutel. „Nehmt es. Es dürfte bis zu unserem Wiedersehen reichen.“
Zunächst wollte Marcel empört ablehnen, doch der Engländer ergriff die Hand des jungen Franzosen und legte den ledernen Beutel entschlossen hinein. „Keine Widerrede, mein Freund. Ihr ward meinem Land zu Diensten und nun zeigt sich England erkenntlich. Und ich selbst habe einiges gut zu machen.“
Da war noch diese eine Sache, die er dem Chevalier vielleicht sagen sollte … Marcel spürte, dass den Engländer irgendetwas bedrückte. Offenbar fühlte er sich schuldig. Doch woran? Eine merkwürdige Spannung lag plötzlich in der Luft.
Townsend atmete tief durch, bevor er sich zu einem Geständnis durchrang: „Es gibt noch etwas, das Ihr vielleicht wissen solltet. Der Anschlag damals in Neapel auf Euren Freund … Ich trage eine Mitschuld an Eurem jetzigen Schicksal.“
Er blickte nun dem grazilen Vampir, der neben dem Chevalier stand, in die dunkelblauen Augen. „Ich habe auf Wunsch des Marquis Euren Mörder gedungen. Heute reut mich diese Tat, denn ich bin an Eurem Schicksal nicht ganz unbeteiligt gewesen.“
Nach diesem Satz schien die Zeit im Raum stehenzubleiben. Minutenlang herrschte eine Grabesstille, nur unterbrochen vom leisen Ticken einer kleinen Standuhr. Silvio schaute Townsend ebenso ungläubig an wie sein Freund Marcel. Hatte er gerade richtig gehört? War Julien für den Tod von Silvio und letztendlich für dessen Wandlung verantwortlich?
Endlich durchbrach Townsends raue Stimme die Stille. „Ich bedaure diese Entwicklung zutiefst, meine Herren und erbitte Eure Verzeihung. Leider kann ich nichts davon ungeschehen machen, nur hoffen, dass mir Gott eines Tages vergibt. Seid versichert, dass ich alles tun werde, um Euch zu helfen.“
Mit diesen Worten zog er sich zurück, um seine Reisevorbereitungen für den kommenden Tag zu treffen. Eine Kutsche mit vier schnellen Pferden sollte ihn nach Paris bringen. Marcel und Silvio blickten ihm stumm hinterher, bis die Tür des Salons ins Schloss fiel.
Eine Reise als geflügeltes Schattenwesen auf den Schwingen der Nacht kostete einen Vampir sehr viel Kraft und wurde daher nur in seltenen Fällen für notwendig erachtet. Es war doch sehr viel leichter, sich gut getarnt in menschlicher Gesellschaft aufzuhalten.
Im Falle des Marquis war es jedoch die schnellste Art der Fortbewegung, um in einer Nacht nach Châtellerault und zurück zu kommen. Ein weiterer Vorteil war, dass ein Reiter, der sich dem Schloss näherte, schon von Weitem sichtbar gewesen wäre, während der Tod doch immer unverhofft und in vielerlei Gestalt daher kam. Doch halt: Wenn er diesen kleinen Schiffsjungen töten würde, wäre ihm Marcels Hass und Ablehnung sicher. Also brauchte er den unerfahrenen Vampir als Druckmittel für seine Forderung. Gegen ihn, der seine dunkle Kraft bereits seit Jahrhunderten ausübte, waren die jungen Untoten nahezu machtlos. Selbst Marcel, der seinem Erschaffer mit der Zeit immer ähnlicher geworden war, bis er auf Silvio traf, wäre kein ernst zu nehmender Gegner in einem offenen Kampf. Doch darauf wollte er es gar nicht ankommen lassen.
Umso enttäuschter war der Marquis, als er das Schloss verlassen vorfand. Zornig durchsuchte er jeden einzelnen der kalten, dunklen Räume und jedes Stockwerk des immer noch spärlich eingerichteten Herrensitzes. Hier gab es nichts Untotes und nichts Lebendiges, außer in den angrenzenden Ställen. Auf der Auffahrt vor dem Schloss, das nun Efeu überwuchert vor
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