Im Bann der Lilie (Complete Edition)
schon seit frühester Jugend auf den sieben Weltmeeren zuhause war, jede Gelegenheit, um den armen Jungen zu schinden und zu quälen, ganz besonders, wenn er etwas getrunken hatte. Die Mannschaft störte sich nicht daran. Schiffsjungen wie Silvio waren rechtlos auf den Handelsschiffen der Privatreedereien und leicht zu ersetzen. Solange man ihn nicht totschlug und er seine tägliche Arbeit verrichten konnte, würde auch der Kapitän nichts sagen. Heute war es wieder besonders schlimm. Nachdem sein Wutanfall verklungen war, packte Staffords den zappelnden Knaben an seinem zerrissenen Hemdkragen und schubste den Hilflosen die Treppe hinunter, wo er die Pforte zum Laderaum aufschloss und den Ärmsten hineinstieß. „Ab zu den Ratten, du verlauster Tunichtgut. Das Abendessen fällt heute für dich aus!“, rief er dabei aus und lachte. Dann schob der Maat den Riegel mit einem Ruck wieder vor und verschloss die Tür mit einem eisernen Vorhängeschloss. „Kannst froh sein, wenn ich dich nicht hier vergesse!“, rief er dem Jungen noch hämisch durch die geschlossene Türe zu und ging mit polternden Schritten davon.
Silvio sank in eine Ecke vor den Fässern mit dem spanischen Wein für Admiral Nelsons Flotte zu Boden, schlang beide Arme um seine Knie, legte den Kopf darauf und weinte lautlos. Nach so langer Zeit der Quälerei hatte er keine Tränen mehr übrig. Es war so still und dunkel hier unten, nur das Knarren der zentimeterdicken Holzbohlen war in einem regelmäßigen Rhythmus zu hören, sobald die Wellen während der Fahrt gegen den Rumpf schlugen. Als ob das Schiff selbst atmete. Irgendwie beruhigte diese eintönige Gleichmäßigkeit den Jungen. Nach kurzer Zeit machte Silvio es sich zwischen einigen zusammengerollten Tauen bequem. Wer weiß, wann man ihn hier wieder herauslassen würde! Der Schlaf schenkte ihm Vergessen, obwohl sein Rücken immer noch von den brutalen Schlägen schmerzte und er außer einem Stück Brot heute Mittag keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte.
Marcel betrachtete den erschöpften Menschen, dessen ausgemergelter Körper schlafend vor ihm lag, mit einer Mischung aus Neugier und dem aufkeimenden Verlangen nach Blut. Die frischen Striemen waren unter dem zerfetzten, einstmals weißen Hemd deutlich zu erkennen. Von ihnen ging dieser metallisch-süße Duft aus, der ihn aufgeweckt hatte. Silvio lag auf der Seite und seine langen, dunklen Locken kringelten sich über das verschmutzte Gesicht bis hinunter zum Schulteransatz. Lange, dunkle Wimpern wie die von Marcel selbst verbargen die Farbe der Augen. Die Gesichtszüge waren ebenmäßig und fein. Ein leichter Flaum zeigte sich auf der Oberlippe, Anzeichen für die gerade erwachende Männlichkeit. Silvios Atem ging ruhig und regelmäßig. Was hielt ihn eigentlich davon ab, sich auf diesen Knaben zu stürzen? Mitleid? Hatte Julien etwa recht gehabt, als er ihn immer wieder damit aufzog, „zu menschlich zu denken“? Marcel kniete sich zu dem Menschen. Wie alt mochte er sein? Und warum wurde er so schlecht behandelt? Aber vor allem – wie mochte sein Blut wohl schmecken? Ganz sanft fuhr der junge Vampir mit seinem Zeigefinger über eine der frischen Wunden dicht am Halsansatz. Ein paar Tropfen quollen heraus und er kostete sie mit der Leichtigkeit eines Gourmets. Kostbar, wie edler Wein, dachte er. Dieser Knabe hier war von der Unschuld und der Schönheit eines Botticelli-Engels unter all dem Schmutz auf seiner Haut, davon war er überzeugt. Deshalb tat er etwas für einen Vampir durchaus ungewöhnliches: Er tauchte sein Taschentuch in eines der Fässer, die das Trinkwasser enthielten und begann, vorsichtig die Wunden des Jungen zu reinigen. Silvio schreckte hoch, als das kühle Nass seine Haut berührte und starrte erschrocken in das Gesicht von Marcel, der warnend seinen Zeigefinger vor die Lippen hielt und den Jungen anstarrte Mein Gott, hatte dieser blaue Augen! Fast wie die von Julien und sie bildeten einen so herrlichen Kontrast zu dem dunklen Haar! Saint-Jacques war völlig fasziniert.
„Wer seid Ihr?“, flüsterte der Junge jetzt.
„Nur ein blinder Passagier“, erwiderte Marcel. „Und nun dreh dich rum, zieh diesen Fetzen von Hemd aus und lass mich weiter deine Wunden versorgen.“
Der Knabe tat, wie ihm geheißen. Er war es gewohnt, Befehle entgegen zu nehmen.
„Wie ist dein Name?“, wollte Marcel wissen, während er weiter vorsichtig die Striemen mit dem feuchten Tuch reinigte.
„Silvio.“ Der Name kam fast
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