Im Bann der Lilie (Complete Edition)
einer Flasche Wein oder Rum abfüllen. Der Schiffsjunge ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Aber bis heute Abend war noch Zeit, vielleicht konnte er ja auf Marcels Hilfe zählen? Silvio folgte dem bärbeißigen Maat, der ihn wieder wie eine Puppe vor sich her stieß. Körperlich konnte er diesem Widerling sowieso nichts entgegensetzen und jedes Aufbegehren würde nur weitere Schläge nach sich ziehen. Die Tür zum Laderaum blieb wieder unverschlossen.
Marcel Saint-Jacques hatte die Szene durch einen schmalen Spalt im Holz seiner Frachtkiste beobachten können. Am liebsten wäre er diesem Koloss an den Hals gesprungen, als er sah, wie er den Jungen behandelte, doch er beherrschte sich. Nun, da er wusste, dass Silvio und dieser John Staffords heute Abend allein auf dem Schiff sein würden, war er sicher, eine ausreichende Mahlzeit zu bekommen und das würde nicht Silvio sein! Er beschloss, noch ein paar Stunden zu schlafen, um seine Kräfte zu schonen, die langsam schwanden.
Das Anlegen im Hafen blieb Marcel hier unten ebenso wenig verborgen wie der hektische Lärm der quirligen Stadt. Schwere Frachtwagen, gezogen von Maultieren und Pferden holten die Waren aus den Bäuchen der Schiffe ab und transportieren sie ins Landesinnere. Fischhändler priesen ihre frischen Waren an. Die Tore der angrenzenden Lagerhäuser öffneten und schlossen sich, wenn Dutzende von Arbeitern Säcke, Fässer und Körbe gefüllt mit Gewürzen, Früchten und Getränken aus aller Herren Länder hinein- und hinaustrugen. Der Vampir erwachte, als der Steg bereits auf den Landungsquai hinuntergelassen war und die Seeleute der MARY-ANN in Vorfreude auf Schnaps und Weiber lärmend darüber liefen, um ihren verdienten Landurlaub anzutreten. Nur der erste Maat und der Schiffsjunge blieben als Nachtwache zurück, wie Staffords es angekündigt hatte. Diesmal wollte und konnte Marcel sein Verlangen nach dem roten Lebenssaft nicht unterdrücken. Er ging unbemerkt aus dem Frachtraum des Schiffes, die Treppe hinauf auf das Deck und schaute sich um. Der Himmel über Neapel war sternenklar. Aus einer Hafenkneipe drangen die Musik von Mandolinen und das lautstarke Grölen der Betrunkenen. Es roch nach Salzwasser und Fisch.
Aus Richtung der Kombüse klang das Scheppern von Geschirr, Staffords brummige Stimme schimpfte lallend vor sich hin, gefolgt von einem Klatschen und einem kurzen Aufschrei. Offenbar hatte er dem armen Jungen wieder eine schallende Ohrfeige verpasst! Marcel spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. In Sekundenschnelle war er die Stufen am Vorschiff hinuntergeeilt und schoss wie ein riesiges Raubtier auf den Rücken des korpulenten Seemanns zu, wo er sich festkrallte. Staffords machte instinktiv eine abwehrende Bewegung, drehte sich ein paar Mal mit seiner Last auf dem Rücken im Kreise, aber da waren Marcels Zähne bereits in seinen massigen Hals eingedrungen und ließen das Leben aus ihm heraus fließen. Der kräftige Mann brach mit weit aufgerissenen Augen in die Knie. Ein Gurgeln kam noch aus seiner Kehle, dann krachte auch sein Oberkörper auf die Holzbohlen. Silvio hatte dem Treiben mit blankem Entsetzen zugesehen und stand nun am ganzen Körper zitternd in einer Ecke zwischen den Säcken mit Mehl, Zucker und Bohnen. Nur eine schwache Schiffslaterne hatte die Szene beleuchtet und der Junge glaubte, dass der Teufel sie nun alle holen werde. Als Marcel sich mit blutverschmierten Lippen von seinem Opfer erhob, bekreuzigte sich der Junge rasch und schickte ein Stoßgebet an die Muttergottes. Der junge Vampir wischte sich den Mund am Ärmel ab und ging langsam auf den Schiffsjungen zu. Die Glut aus Zorn und Blutgier in Marcels Augen war erloschen, und er hatte wieder dieses schöne sanftmütige Antlitz, mit dem er die Menschen über seine wahre Natur hinweg täuschen konnte.
„Was … was bist du nur für ein Monster!“, schluchzte Silvio. Seine großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen.
Marcel sah ihn traurig an. Er war dem Jungen jetzt ganz nahe. Dieser wollte ihn wegstoßen, trommelte mit seinen kleinen Fäusten wütend vor seine Brust, während Tränen über sein Gesicht rannen. Aber anstatt ihn abzuwehren, schloss Marcel ihn fest in die Arme.
„Ja, das bin ich wohl“, gab er leise zu. „Schade, dass du mich so gesehen hast.“
Silvio hatte sein Gesicht in die langen dunklen Haare des Vampirs verborgen und schluchzte immer noch, während Marcel ihm sanft über den Rücken streichelte. All das erlittene Leid
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