Im Bann der Lilie (Complete Edition)
wo man sich anscheinend mit der englischen Flotte treffen wollte.
Der Gedanke, eine so lange Zeit in einem stickigen Frachtraum zu verbringen und höchstens in der Nacht für wenige Stunden einmal an Deck kommen zu dürfen, immer in Gefahr, von der Nachtwache entdeckt zu werden, behagte ihm ganz und gar nicht. Den Geruch von Teer, Schweiß und Trockenfisch stach ihm bereits von der letzten Überfahrt her noch in der Nase! Ein Glück nur, dass selbst der stärkste Brecher der rauen See die todesähnliche Ruhephase eines Vampirs nicht stören konnte. Eine andere Sache hätte Julien ihm vielleicht damals noch erklären sollen: Konnten Vampire eigentlich ertrinken? Doch darüber durfte er sich keine Gedanken machen. Seltsamerweise kam ihm Lisette in den Sinn. Wie lange es wohl diesmal dauern würde, bis sie bemerkte, dass niemand mehr die Briefe, die sie vor dem Grabmal ablegte, abholte, nicht einmal nach Wochen?
Das eintönige Wiegenlied der Wellen wurde tagsüber nur von dem Knattern der Segel und den Befehlen des ersten Offiziers unterbrochen. Abends klangen hin und wieder raue Seemannslieder bis hinunter zu der Kiste im Laderaum, in welcher Marcel auf einer Decke ruhte. Darunter hatte William Townsend eine Schicht Holzwolle zur Polsterung gelegt. Eine weitere Decke und eine weitere Schicht Holzwolle konnte Marcel über sich schichten. Bis Cádiz war er nicht an Deck gekommen. In der spanischen Hafenstadt hatte er endlich wieder für kurze Zeit festen Boden unter den Füßen gehabt und frisches Blut von Dirnen getrunken. Jetzt dauerte seine zweite Fahrt bis Neapel bereits mehrere Wochen. Eine kurze Flaute hatte sie aufgehalten, doch Gibraltar hatte das schwere Schiff bereits hinter sich gelassen. Es lag tief im Wasser und kam dadurch nur langsam voran, selbst wenn die Segel sich in der steifen Brise blähten, als wolle die Windsbraut es persönlich an sein Ziel ziehen. Marcel Saint-Jacques spürte, wie der Durst ihn von Tag zu Tag mehr quälte. Das Blut der wenigen Ratten, die an Bord waren, hatte er sich schon einverleibt. Von den lebenden Tieren, die das Schiff in Spanien an Bord genommen hatte, darunter auch zwei Schweine, hatte bereits eines einen seltsamen Tod erlitten. Wenn er jetzt auch noch die anderen Tiere töten würde, gäbe es mit Sicherheit einen Aufstand unter den abergläubischen Seeleuten, die mit Sicherheit annehmen würden, ihr Schiff sei verflucht. Und Marcel musste nach Ägypten! Das war der letzte Anhaltspunkt, der ihm zu Juliens Aufenthalt bekannt war, auch wenn er dazu ein Schiff der feindlichen Engländer nutzen musste!
In dieser Nacht musste der Vampir an Deck, um mehr Nahrung zu sich zu nehmen! Aber noch bevor der Abend hereinbrach, vernahm der junge Vampir einen Tumult hoch über ihm auf dem Deck des Schiffes. Der erste Maat John Staffords war gerade dabei, dem zierlichen Schiffsjungen Silvio Barzini mit einem Hanftau eins überzubraten, weil er seiner Meinung nach das Vordeck nicht sauber genug geschrubbt hatte. Die Mannschaft johlte. Der Junge war mit seinen knapp siebzehn Jahren schon fast zwei Jahre auf der MARY-ANN gereist, nachdem er vom Kapitän aus einem Arbeitslager für Waisenknaben freigekauft wurde. Nach dem Tod seiner Mutter vor sieben Jahren und ganz ohne Verwandte in dem fremden Land war er dort in Obhut gegeben worden. Seine Mutter Lucia hatte ihm von dem Vater erzählt, einem Seemann, dem sie aus Liebe gefolgt war und der sie hier in England zurückgelassen hatte, mit dem kleinen Sohn unter dem Herzen. Silvio wünschte sich daher nichts sehnlicher, als in die Heimat seiner Mutter zurückzukehren, um dort vielleicht Verwandte oder Freunde von ihr zu finden. Die MARY-ANN wurde dabei zu seinem Schicksal. Die Schläge und den Spott der Matrosen hatte der kleine Halbitaliener die ganze Zeit über ertragen, mit diesem einen Ziel vor Augen. Jetzt steuerte dieses Schiff endlich die Heimat seiner Mutter an, und es sah fast so aus, als würde er dort nicht mehr lebend ankommen. Staffords war ein grobschlächtiger Seemann mit dem pockennarbigen Gesicht unter strähnigen, ungewaschenen Haaren, deren natürliche Farbe man gar nicht mehr bestimmen konnte. Er besaß eine natürliche Abneigung gegen alles, was „nicht britisch“ war. Und dieser Silvio war ihm von vorneherein ein Dorn im Auge gewesen, als der Kapitän ihn anschleppte. Viel zu schmal und zu schwächlich, befand er. Höchstens als Futter für die Fische zu gebrauchen! So nutzte der alte Haudegen Staffords, der
Weitere Kostenlose Bücher