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Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Titel: Im Bann der Lilie (Complete Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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Zuneigung gestanden hatte, verdrängte Marcel Saint-Jacques in die hinterste Ecke seiner unsterblichen Erinnerung.

„Zum Teufel, wo steckst du bloß, Marcel?“, fragte sich Julien, als er Nacht für Nacht durch Neapel streifte auf der Suche nach dem verlorenen Freund.
    Mit welcher Genugtuung hatte er Townsends Botschaft gelesen, kurz vor dem Ablegen des Seglers, der ihn nach Neapel brachte. Voller Vorfreude war er vor einer Woche dort von Bord gegangen, um diese Suche zu beginnen. Wohl einem Dutzend der Bewohner der Hafenstadt hatte er Marcels Antlitz und Gestalt beschrieben. Bis sich schließlich einer der Einwohner erinnerte und ihm das kleine Haus am Stadtrand zeigte, in dem Marcel und Silvio kurze Zeit gewohnt hatten. Als er davor stand, spürte er deutlich, dass niemand zuhause war. Seine Enttäuschung war maßlos. Er klopfte dennoch. Als niemand öffnete, verschaffte sich Julien schließlich als Schattenwesen Zutritt und schaute sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Einfaches Mobiliar und eine Menge Staub. Aber hier drinnen konnte er ihn wieder spüren: Diesen letzten warmen Hauch von menschlicher Aura, die den jungen Vampir Saint-Jacques trotz seiner Wandlung immer noch umgab, die ihn so einzigartig für Julien machte und so prädestiniert für die Rolle des „Erlösers“, die er – Julien – bereits seit Jahrhunderten ausübte. In dieser endlos langen Zeit war sein eigenes Herz erkaltet bis zu jeder Stunde, in der er Marcel Saint-Jacques begegnete. Wieder wurde dieses zärtliche Begehren in den Lenden des Marquis geweckt und unverzüglich abgelöst von dem rasenden Zorn, dass ein Sterblicher sich das genommen hatte, was ihm – Marcels Erschaffer – doch zugestanden hätte: Die erste Nacht mit seinem Schützling, der bislang nur mit einer Frau, dazu noch einer Zigeunerin, zusammen gewesen war! Bei diesem Gedanken begann Juliens Blut erneut zu kochen. Niemals hatte er selbst die Ehre der Vampire verraten. Nur dieses eine Mal, als er Marcels verboten-sinnliche Gedanken an die Nächte mit diesem schmutzigen Schiffsjungen an Bord des Schlachtschiffes vor Ägyptens Küste aufgefangen hatte, da hatte seine Eifersucht alle Besonnenheit ausgelöscht. Dennoch hatte er Townsends Spitzel die Arbeit machen lassen und den Triumph ausgekostet, als ihn die Nachricht vom Ableben dieses Sterblichen erreichte. Hier – in diesem Haus – sagte ihm irgendein ungutes Gefühl, dass da mehr geschehen sein musste. Unruhig lief der Marquis in den Räumen auf und ab.
    Wohin war Marcel verschwunden? Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Marcel aus Trauer um seinen Freund eine Schlafphase eingelegt hatte. Dann war er nicht aufzuspüren für seinesgleichen! Nur das nicht! Am liebsten hätte der Marquis seinem Unwillen lauthals Luft gemacht. Welches sarkastische Schicksal trieb sie beide als Verdammte wie Ebbe und Flut durch die Zeit? Lange würde sich Julien nicht mehr in Neapel aufhalten dürfen, denn er hatte den Engländern gegenüber ein Versprechen einzulösen! Er musste zurück zu Napoleons Truppen und sich wieder in das Vertrauen des Eroberers einschmeicheln, um dessen Pläne zu erfahren! Was hatte dieser Townsend noch vor seiner Abreise gesagt: „Geht in die Taverne Zum goldenen Fass. Dort wird man Euch etwas mit auf den Weg geben.“ Diese Schänke lag im Hafenviertel. Noch in derselben Nacht machte er sich auf den Weg.
    Seinen Ärger und die Verzweiflung über die ergebnislose Suche spülte der Marquis unterwegs mit dem Blut einer jungen Hafendirne hinunter und anschließend mit einem Becher trockenen Rotweins in der Taverne. Es war kein guter Wein, und es waren keine guten Nachrichten, die hier die Runde machten: Napoleons Truppen hatten sich bereits auf dem Rückzug befunden, als der Heerführer über die Alpen zu ihnen gestoßen war. Daraufhin hatten die Franzosen vor ein paar Tagen die österreichische Armee unter dem schon einundsiebzigjährigen Baron Melas in der Schlacht von Marengo doch noch geschlagen. Der Kavalleriegeneral Kellermann zwang den österreichischen Korps unter General Zach zur Kapitulation und machte Napoleon so zum Herrn über Italien. Und das schmeckte den Italienern gar nicht. Ein aufgeregtes Raunen und Tuscheln surrte zwischen den Tischen in der Schenke umher wie ein Schwarm von Insekten. Einfache Leute saßen daran. Misstrauische Blicke beäugten hin und wieder den elegant gekleideten Herrn, der allein an einem Tisch vor seinem Becher saß. Die feinen Ohren des alten Vampirs nahmen

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