Im Bann der Lilie (Complete Edition)
die einzelnen Worte der Gäste sehr wohl war. Auch die Sprache machte ihm weniger Probleme als Marcel. Zu lange trieb er schon sein Unwesen als Untoter auf Erden. Viel Zeit, um alle Sprachen dieser Welt zu lernen. Napoleons Truppe würde nach der Schlacht noch dort lagern, hieß es. Die Zeit drängte also, wenn der Marquis den Feldherrn einholen wollte!
Verfluchter Korse, jetzt laufe ich dir schon wieder hinterher, dachte Julien erbittert und bestellte frustriert einen weiteren Becher Wein, obwohl ihm der Sinn nach etwas anderem stand. Für einen Moment war er versucht, sein Versprechen den Engländern gegenüber für null und nichtig zu erklären und einfach weiter nach dem Chevalier zu suchen. Aber vielleicht würde er diese Verbündeten wieder einmal brauchen?
Der Wirt kam an seinen Tisch und wollte gerade den Becher aus einem Krug wieder auffüllen, als Julien ihn am Arm packte.
„Habt Ihr ein gutes Pferd für mich?“, fragte er mit durchdringendem Blick aus eisblauen Augen.
Der Wirt nickte verunsichert.
„Si, Signore. Ihr habt Glück. Einer der Armeegäule lahmte und wurde hier zurückgelassen. Inzwischen ist er frisch beschlagen und für zehn Gulden ist er Euer.“
Der Adelige legte als Antwort die geforderten Münzen auf den Tisch.
„Gut, lasst ihn satteln. Ich reite sofort los!“
„Wartet!“, raunte der Wirt ihm zu und beugte sich über die Tischplatte. Ein penetranter Knoblauchgeruch schlug dem Marquis entgegen. Julien rümpfte vor Ekel die Nase.
„Seid Ihr zufällig der Marquis de Montespan?“
Dieser nickte bestätigend.
„Dann habe ich noch mehr für Euch als nur ein Pferd.“
Der Wirt winkte einer Dienstmagd im Schankraum und diese brachte einen winzigen Reisekäfig aus Holz, in dem zwei eingepferchte Brieftauben um die Wette gurrten.
„Mit den besten Grüßen von Signore Townsend. Gebt gut auf sie acht.“
Julien verstand. Das war die Art, den britischen Geheimdienst über die Truppenbewegungen von Napoleon zu unterrichten. Er nahm den Käfig wortlos entgegen.
Dann stürzte er den Becher Wein hinunter und verließ die Schenke. Dabei spürte er die neugierigen Blicke der anderen Gäste auf seinem Rücken ruhen. Am liebsten hätte er sich herumgedreht und diesen Einfaltspinseln zur Abschreckung einmal seine Fangzähne gezeigt. Doch er beherrschte sich und ging ruhigen Schrittes hinüber zum Stall, wo der Dienstbursche einen hochbeinigen Braunen fertig sattelte und zäumte. Er beobachtete den muskulösen jungen Mann, der so ruhig und mit kundigen Händen mit dem Tier umging. Dieses stampfte unwillig mit dem Vorderbein, offenbar war es begierig zu laufen und die Enge des Stalles zu verlassen.
„Danke, Junge“, sagte der Marquis.
Der Stalljunge wandte sich um und lächelte schüchtern. Er wirkte unbeholfen und wenig intelligent, aber vertrauensvoll. Und er roch nach frischem Heu, Leder und Pferd. Julien blickte dem etwa neunzehnjährigen schlanken Burschen geradewegs in die dunklen Augen. Fast so schwarz wie die von Marcel, dachte er dabei. Julien lächelte zurück. Dann packte er den Ahnungslosen am Kragen seines einfachen Leinenhemdes, riss den verdutzten Sterblichen an sich und schlug seine Zähne unbarmherzig in das zarte Fleisch des Halses. Köstlicher als jeder Wein! Genießerisch schloss Julien die Augen und machte einen tiefen Zug in Erinnerung an den Geschmack des süßen Blutes, das er vor vielen Jahren von Marcel getrunken hatte. Zum ersten Mal wurde dem Marquis bewusst, dass er besessen war – von dem Gedanken, Marcel zu seinem Gefährten zu machen! Dieser Stalljunge hier einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen! Den leblosen Körper ließ er nach seinem zusätzlichen Nachtmahl achtlos in das Stroh fallen. Der Marquis fühlte sich frisch und gestärkt, bereit für eine lange Reise. Er band das schnaubende Pferd los und führte es aus dem Stall. Draußen prüfte er nochmal, ob der Sattelgurt auch festsaß, befestigte den Taubenkäfig mit zwei Lederriemen am Sattel und schwang sich in die Steigbügel. Der Gaul trabte sofort an. Der Rhythmus der eisenbeschlagenen Hufe hallte noch einige Zeit durch die engen Gassen Neapels, bevor er in der Dunkelheit verklang.
Auf seinem Weg zog der Marquis de Montespan eine blutige Schneise durch das Land Italien. Doch diese fand kaum Beachtung, zu sehr war man mit kleinen Scharmützeln und lokalen Aufständen gegen die Besatzer beschäftigt. Es floss viel Blut zu dieser Zeit und kaum jemanden kümmerte es, aus welchen
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