Im Bann der Wasserfee
befreien.«
»Überlege es dir schnell oder ich bin des Todes.«
Die Wachen öffneten die Tür. Ragnar verließ den Kerker. Er musste unbedingt einen Weg finden, um Dylan zu befreien – so schnell wie möglich.
Wenn es eine Hölle gab, dachte Niamh, so war es die unendliche Finsternis des Kerkers der Wasserfeen. Niemand hatte bisher länger als vierzig Tage in diesem Loch ausgehalten, ohne sich in die Tiefe zu stürzen. Niamh begann diese Selbstmörder zu verstehen. Dies war beunruhigend.
Obwohl es nicht kühl war, kroch eine Kälte in ihre Glieder, die mit der Temperatur des Raumes nichts zu tun hatte. Schlotternd schlug sie die Arme um sich und kauerte sich in einer Ecke. Ihre Lampe war längst verloschen und sie saß in absoluter Finsternis auf ihrem Bett aus den Knochen des Mondwolfes. Es war bereits so weit: Sie vernahm ein Raunen aus dem Abgrund, flüsternde, verführerische Stimmen, die sie in den Tod locken wollten.
Doch war der Tod dieser ewigen, undurchdringlichen Finsternis nicht vorzuziehen? Wer wusste, ob sie jemals wieder hier herauskam? Deirdre hatte nichts darüber verlauten lassen. Niemand besuchte sie, außer ein dunkelgewandeter, schweigsamer Diener, der ihr geschätzte zweimal am Tag Essen durch einen schmalen Spalt an der Unterseite der Tür hindurchschob. Tage und Nächte kannte sie nicht mehr, alles verschwamm in vollkommener Schwärze und Einsamkeit.
Niamh presste die Handballen gegen ihre Ohren, dennoch vernahm sie weiterhin den Sirenengesang der Tiefe. »Komm zu uns. Komm. Wir brauchen dich. Wir verzehren uns nach dir. Nur wir können dir ewigen Frieden geben!«
Es war, als würden unzählige Stimmen gleichzeitig sprechen und jede einzelne hörte sich tief und dumpf an, was nicht allein am Hall liegen konnte. »Komm zu uns. Werde eins mit uns. Lass uns nicht länger warten.«
Schrecklich und schön zugleich war es. Unwiderstehliche Sehnsucht erzeugte es in Niamh, doch zugleich das Gefühl von Gefahr für Leib und Seele. Tränen rannen über ihre Wangen, als ihre Beine wie von selbst näher traten zum ewigen Abgrund, von dem nur ein hüfthohes Geländer sie noch trennte.
Niemand wusste, was dort unten war, wenn überhaupt etwas in jener Finsternis existieren konnte, so waren es gewiss klauenbewehrte Dämonen, die nicht nur ihr Blut tranken und ihren Leib zerrissen, sondern sie mitsamt ihrer Seele verschlangen.
»Ich will nicht!« Ihre Stimme klang dünn, hallte aber dennoch von den Wänden wider. Niamh fuhr sich mit der Zunge über die eingerissenen Lippen. Sie hatte einen pelzigen Geschmack im Mund, woran das faulige Wasser nicht unschuldig war, das man ihr gab. Sie war nahe daran, dieses und das alte Brot zu verschmähen. Sollte sie doch sterben oder hinabstürzen in diese Tiefe.
»Niamh! Niamh!« Ihr geflüsterter Name erklang wieder und wieder.
»Nein, ich will nicht.«
»Niamh!«
Sie schüttelte den Kopf. Mit den schmutzigen Handballen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Nein!«
Sie kreischte auf, als sie Klauen an ihren Schultern verspürte. Die Kreaturen der Finsternis waren gekommen, um sie hinabzuziehen und zu quälen. Wer wusste, ob sie sie gleich töten würden, wohl eher lebendig verschlingen, Stück für Stück. Sie versuchte sich dem mentalen Griff der Bestien zu entziehen.
»Niamh!«
Sie schrie.
Plötzlich verspürte sie einen scharfen Schmerz an ihrer Wange. »Hör auf zu schreien! Es tut mir leid«, vernahm sie eine Stimme in der Finsternis. Durch den roten Schleier ihres heraufziehenden Wahnsinns sah sie verschwommen die Umrisse eines Menschen im Widerschein eines Lichtzaubers.
»Was geschieht mit mir?«
»Ich bin es, Merenwen. Ich bin gekommen, um dich zu holen.«
Sie sah tatsächlich aus wie Merenwen, zumindest soweit Niamh sie erkannte. »Du lügst. Du gehörst zu ihnen, den Unaussprechlichen, den Wesen aus Finsternis und Rauch. Du hast nur ihre Gestalt angenommen.«
»Da bin ich ja noch gerade rechtzeitig gekommen. Es tut mir leid, aber es ging nicht früher. Es wäre unverzeihlich gewesen, wenn du ...« Sie brach ab. »Komm, wir müssen uns beeilen, denn der Schlafzauber hält nur kurz an, hinterlässt dafür aber auch kaum Spuren.« Sie zog Niamh mit sich. »Zieh diesen Umhang über.«
Erst jetzt erkannte Niamh das dunkle Gewand, das Merenwen über dem rechten Unterarm trug. Zögerlich nahm sie es entgegen und streifte es über. Der Stoff fühlte sich kühl an und roch leicht muffig. Es war das Gewand eines Wasserfeen-Kriegers,
Weitere Kostenlose Bücher