Im Bann der Wüste
nur noch schweigen lassen.
Tote, die sich schon zurückgezogen hatten, weit entfernt auf der endlosen, staubigen Straße, zu weit entfernt, um ihre Forderungen hören oder spüren zu lassen. Trauer vergewaltigt den Verstand, und ich weiß alles über Vergewaltigung. Es ist nur eine Frage, inwieweit man sich in sein Schicksal ergibt. Deshalb werde ich nichts spüren. Keine Vergewaltigung, keinen Kummer.
Neben ihr knirschten Steine. Heboric. Sie wusste, dass er es war, ohne dass sie aufschauen musste. Der ehemalige Fener-Priester murmelte leise vor sich hin. Dann verstummte er, als wollte er sich stählen, um durch ihre Schweigsamkeit hindurch zu ihr durchzudringen. Vergewaltigung. Einen Augenblick später begann er zu sprechen. »Sie wollen aufbrechen, Mädchen. Sie sind beide erschöpft. Es ist ein weiter Weg bis zur Oase – zu dem Ort, wo sich Sha’iks Lager befindet. Es gibt zwar Wasserstellen unterwegs, aber wir werden kaum etwas zu essen finden. Der Toblakai wird auf die Jagd gehen, aber es gibt nur noch wenig Wild – ich nehme an, das liegt an den Wechselgängern und Vielwandlern. Wie auch immer, ob du das Buch nun öffnest oder nicht, wir müssen los.«
Sie sagte nichts, wiegte sich nur weiter vor und zurück.
Heboric räusperte sich. »Wenn ihre verrückten Fieberträume mich auch vor Wut schäumen lassen und ich dir den dringenden Rat gebe, nicht auf sie einzugehen … wir brauchen die beiden – und die Oase. Sie kennen die Raraku besser als jeder andere. Wenn wir irgendeine Chance haben wollen, das alles zu überleben …«
Überleben.
»Ich gebe zu«, fuhr Heboric nach einem Augenblick fort, »dass ich Sinne entwickelt habe, die meine Blindheit weniger schlimm erscheinen lassen. Und dann sind da noch meine Hände, meine wieder geborenen Hände … Trotzdem kann ich allein dich nicht beschützen, Felisin. Und außerdem gibt es keine Garantie, dass die beiden uns überhaupt gehen lassen würden, wenn du verstehst, was ich meine.«
Überleben.
»Wach auf, Schätzchen! Du musst eine Entscheidung treffen.«
»Sha’ik hat ihre Klinge gegen das Imperium gezogen«, sagte sie, ohne den Blick vom staubigen Erdboden abzuwenden.
»Eine närrische Geste.«
»Sha’ik wollte der Imperatrix die Stirn bieten und die Imperialen Armeen in einen Abgrund voller Blut schicken.«
»Die Geschichte erzählt von unzähligen ähnlichen Rebellionen, Mädchen, und eine klingt wie ein Echo der vorigen. Ruhmreiche Ideale lassen das Totenkopf-Grinsen des Vermummten gesund erscheinen, es ist nichts als falscher Glanz, und die Rechtschaffenheit – «
»Wen kümmert es, was rechtschaffen ist, alter Mann? Die Imperatrix muss auf die Herausforderung durch Sha’ik antworten.«
»Ja.«
»Sie wird eine Armee aus Quon Tali schicken.«
»Die wahrscheinlich schon unterwegs ist.«
»Und wer«, fuhr Felisin fort und spürte, wie ein kalter Hauch sie berührte, »kommandiert diese Armee?«
Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog, und spürte, dass er zurückzuckte.
»Mädchen – «
Sie schlug mit einer Hand um sich, als würde sie eine Wespe verscheuchen, und stand auf. Sie drehte sich um und stellte fest, dass Leoman sie anstarrte; sein sonnenverbranntes Gesicht schien ihr plötzlich das Gesicht der Raraku zu sein. Härter als das von Beneth und ohne die Launen. Klüger als das von Baudin – oh ja, in diesen kalten, dunklen Augen liegt eine Menge Intelligenz. »Zu Sha’iks Lager«, sagte sie.
Er schaute hinunter auf das Buch, sah dann wieder sie an.
Felisin zog eine Augenbraue hoch. »Würdest du lieber durch einen Sturm marschieren? Lass die Göttin noch ein bisschen länger warten, ehe du ihre Wut von neuem weckst, Leoman.«
Sie sah, dass er sie neu einschätzte; in seinen Augen erschien ein Schimmer der Unsicherheit, und sie war zufrieden. Nach einem kurzen Augenblick neigte er den Kopf.
»Felisin«, zischte Heboric, »weißt du überhaupt – «
»Besser als du, alter Mann. Und jetzt sei still!«
»Vielleicht wäre es besser, wenn unsere Wege sich jetzt trennen würden …«
Sie drehte sich zu ihm um. »Nein! Ich glaube, ich werde dich brauchen, Heboric.«
Er schenkte ihr ein bitteres Lächeln. »Und wozu, Schätzchen? Als dein Gewissen? Da bin ich eine schlechte Wahl.«
Ja, das bist du. Und genau aus diesem Grund die beste.
Eine ganze Reihe von Anzeichen deuteten darauf hin, dass der alte Pfad einst eine Straße gewesen war; er folgte einem Grat, der sich wie eine krumme Wirbelsäule auf eine weit
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