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Im Bann der Wüste

Im Bann der Wüste

Titel: Im Bann der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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räumte dann hastig die letzten Reste beiseite. »Habt Ihr das Bedürfnis, auf all dies eine Antwort zu finden, Historiker?«, fragte er. »All die vielen Bücher, die Ihr gelesen habt, die Gedanken anderer Männer, anderer Frauen … anderer Zeitalter. Wie kann ein Sterblicher eine Antwort darauf finden, wozu seine Art fähig ist? Erreichen wir alle – gleichgültig, ob wir nun Soldaten sind oder nicht – irgendwann einen Punkt, an dem uns das, was wir gesehen, was wir überlebt haben, im Innersten verändert? Unwiderruflich verändert? Und was werden wir dann? Werden wir weniger menschlich – oder werden wir menschlicher? Menschlich genug, oder zu menschlich?«
    Duiker schwieg wohl eine ganze Minute lang; seine Augen waren auf die mit Steinen und Felsbrocken übersäte Erde rund um den Felsblock, auf dem er saß, gerichtet. Dann räusperte er sich. »Jeder von uns hat seine eigene Schwelle, mein Freund. Ob Soldat oder nicht, wir können nur eine bestimmte Menge ertragen, dann überschreiten wir sie … und gelangen an einen anderen Ort. So, als hätte die Welt um uns herum ihre Lage geändert, dabei ist es nur unsere Art, die Dinge zu sehen. Ein Wechsel des Blickwinkels, aber er bringt kein Verständnis – man kann etwas sehen, aber man spürt es nicht, oder man weint und schaut doch von außen auf die eigene Seelenqual, als wäre man jemand anderes, jemand, der von all dem gar nicht betroffen ist. Es ist kein Ort für Antworten, Lull, denn jede Frage ist weggebrannt worden. Menschlicher oder weniger menschlich – das müsst Ihr selbst entscheiden.«
    »Aber es ist doch bestimmt darüber geschrieben worden … von Gelehrten, Priestern … oder von Philosophen?«
    Duiker lächelte den Dreck zu seinen Füßen an. »Oh, man hat es versucht. Doch diejenigen, die selbst diese Schwelle überschritten haben … nun, sie haben wenig Worte, um den Ort zu beschreiben, den sie gefunden haben, und wenig Neigung zu versuchen, ihn zu erklären. Wie ich schon gesagt habe, es ist ein Ort ohne Verständnis, ein Ort, wo die Gedanken wandern – formlos, unverbunden. Verloren.«
    »Verloren«, wiederholte der Hauptmann. »Das bin ich auch – und wie …«
    »Doch Ihr und ich, Lull, wir sind erst spät in unserem Leben verloren gegangen. Schaut Euch die Kinder an – und verzweifelt.«
    »Wie kann man mit alldem umgehen, Duiker? Ich muss es wissen, sonst werde ich verrückt.«
    »Mit Taschenspielertricks«, sagte der Historiker.
    »Was?«
    »Denkt an die Magie, die wir in unserem Leben gesehen haben, die gewaltige, zügellose, tödliche Macht, deren Entfesselung wir miterlebt haben. Die in uns Entsetzen und Ehrfurcht hat aufsteigen lassen. Und dann denkt an einen Schwindler – einen von denen, die Ihr in Eurer Kindheit gesehen habt; denkt an das, was sie mit ihren Händen vollbringen konnten – mit einer Mischung aus Täuschung und Fingerfertigkeit konnten sie vor Euren Augen wahre Wunder geschehen lassen.«
    Der Hauptmann schwieg und rührte sich nicht. Schließlich erhob er sich. »Das ist also meine Antwort?«
    »Es ist die Einzige, die mir einfällt, mein Freund. Es tut mir Leid, wenn sie nicht ausreicht.«
    »Nein, alter Mann, sie reicht aus. Sie muss schließlich ausreichen, oder?«
    »Das stimmt.«
    »Taschenspielertricks.«
    Der Historiker nickte. »Verlangt nicht nach mehr, denn die Welt  – diese Welt – wird es Euch nicht geben.«
    »Aber wo werden wir so etwas finden?«
    »An Orten, an denen wir es nicht erwarten«, antwortete Duiker und stand ebenfalls auf. Ein Stück voraus erklangen Rufe, und der Treck setzte seinen Aufstieg erneut fort. »Wenn Ihr gleichzeitig gegen Eure Tränen und ein Lächeln ankämpfen müsst, habt Ihr einen solchen Trick gefunden.«
    »Bis später, Historiker.«
    »Ja.«
    Er blickte dem Hauptmann nach, der sich auf den Weg zu seiner Kompanie machte, und er fragte sich, ob nicht alles, was er gesagt, was er dem Mann angeboten hatte, nichts als Lügen gewesen waren.
    Diese Möglichkeit fiel ihm jetzt, Stunden später, wieder ein, während er mühsam den Pfad entlangstapfte. Es war einer dieser zufälligen, frei umherschweifenden Gedanken, die seinen angegriffenen Verstand mittlerweile häufiger heimsuchten. Er kehrte zurück, dräute einen Augenblick, trieb dann davon und war wieder verschwunden.
    Die Reise ging weiter; sie zogen unter Staubwolken und einigen wenigen verbliebenen Schmetterlingen dahin.
    Korbolo Dom verfolgte sie, versetzte dem malträtierten Ende des Trecks aus dem

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