Im Bann der Wüste
Kalam, »ist die Art und Weise, wie der Boden alle möglichen Geräusche – wie etwa Schritte – verschluckt.«
Minalas erstaunlich graue Augen waren über dem Schal, der die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte, nachdenklich zusammengekniffen. »Du siehst aus, als hättest du Angst.«
Kalam machte ein finsteres Gesicht und drehte sich zu den anderen um. Er hob die Stimme. »Wir verlassen dieses Gewirr jetzt.«
»Wie denn?«, spottete Minala.
»Ich kann nirgendwo ein Tor erkennen.«
Nein, aber es fühlt sich richtig an. Wir haben eine ausreichend große Strecke zurückgelegt, und mir ist plötzlich klargeworden, dass Bedachtsamkeit weniger auf der Reise, als vielmehr bei der Ankunft von Bedeutung ist. Er machte die Augen zu, schloss Minala und alle anderen aus, als er seinen Geist zur Ruhe zwang. Ein letzter Gedanke entfloh ihm: Ich hoffe, ich habe Recht.
Einen Augenblick später bildete sich ein Portal, wurde mit einem reißenden Geräusch größer.
»Du dickköpfiger Bastard«, schnappte Minala und bewies einmal mehr ihren scharfen Verstand. »Eine kurze Besprechung hätte uns dieses Ergebnis bereits ein bisschen eher bescheren können – außer, du hast ganz bewusst dafür gesorgt, dass wir langsam vorangekommen sind. Der Vermummte mag wissen, was du vorhast, Korporal.«
Das ist eine sehr interessante Wortwahl, Minala. Ich glaube, er weiß es.
Kalam öffnete die Augen. Das Tor war ein undurchdringlicher schwarzer Fleck, ungefähr ein Dutzend Schritte entfernt. Er zog eine Grimasse. So einfach ist das also. Kalam, du bist wirklich ein dickköpfiger Bastard. Und merk dir, selbst die fantasielosesten Kreaturen können von Furcht beflügelt werden.
»Bleibt dicht hinter mir«, befahl der Assassine. Bevor er auf das Portal zu- und schließlich hindurchschritt, lockerte er das Langmesser in seiner Gürtelscheide.
Seine Mokassins glitten über sandige Pflastersteine. Es war Nacht. An dem schmalen Streifen Himmel, der zwischen zwei hoch aufragenden Gebäuden zu sehen war, glänzten hell die Sterne. Das Gässchen führte in unzähligen Krümmungen und Windungen weiter, die Kalam gut kannte. Es war niemand zu sehen.
Der Assassine trat an die Mauer zu seiner Linken. Minala tauchte auf; sie führte ihr eigenes und Kalams Pferd am Zügel. Sie blinzelte, drehte den Kopf. »Kalam? Wo bist – «
»Hier«, antwortete der Assassine.
Sie zuckte zusammen, zischte dann frustriert. »Kaum bist du drei Sekunden in der Stadt, da lauerst du schon wieder in den Schatten.«
»Reine Gewohnheit.«
»Keine Frage.« Sie führte die Pferde weiter. Einen Augenblick später tauchten Keneb und Selv auf, gefolgt von den beiden Kindern.
Der Hauptmann schaute sich finster um, bis er Kalam entdeckte. »Ist das Aren?«
»Ja.«
»Verdammt ruhig.«
»Wir befinden uns in einer Gasse, die durch eine Nekropole führt.«
»Wie angenehm«, bemerkte Minala. Sie deutete auf die Gebäude, die sich links und rechts von ihnen erhoben. »Die hier sehen allerdings wie Mietskasernen aus.«
»Das sind sie auch … für die Toten. In Aren bleiben die Armen auch im Tode arm.«
»Wie weit ist es von hier bis zur Garnison?«, wollte Keneb wissen.
»Dreitausend Schritt«, antwortete Kalam und nahm den Schal ab, den er sich um die untere Gesichtshälfte geschlungen hatte.
»Wir müssen uns waschen«, meinte Minala.
»Ich habe Durst«, sagte Vaneb, der noch immer auf seinem Pferd saß.
»Und ich Hunger«, fügte Kesen hinzu.
Kalam seufzte, dann nickte er.
»Ich hoffe«, meldete sich Minala noch einmal zu Wort, »es ist kein schlechtes Omen, durch die Straßen einer Totenstadt zu gehen.«
»Die Nekropole ist von Tavernen für die Trauernden umgeben«, murmelte Kalam. »Wir brauchen nicht weit zu gehen.«
Das ›Wirtshaus zur Sturmbö‹ behauptete, früher einmal bessere Tage gesehen zu haben, doch Kalam vermutete, dass dem nicht so war. Der Fußboden des Hauptraums war abgesackt und bildete jetzt eine Art gewaltiger Schüssel, mit dem Effekt, dass sich jede einzelne Wand nach innen neigte und mit hölzernen Balken abgestützt werden musste, damit sie einigermaßen aufrecht stehen blieb. Faulende Essensreste und tote Ratten waren mit schwerfälliger Geduld ins Zentrum des Fußbodens gewandert und bildeten dort einen modernden, übel riechenden Haufen, der aussah wie ein Opfer für einen zügellosen Gott.
Tische und Stühle standen auf einfallsreich abgesägten Beinen im Kreis um die Grube herum; nur an einem davon saß noch ein Gast,
Weitere Kostenlose Bücher