Im Bann des Feuers Drachen2
mir klar wurde, dass es stimmte: Wir hatten seit dem Morgengrauen hier gesessen, und jetzt war es bereits nach Mittag. Dann verspürte ich auch dumpf das Bedürfnis, die Latrinen aufzusuchen.
Großmutter leckte sich ihre rissigen Lippen. »Wir müssen noch warten.«
Schweigen. Neben mir sog Misutvia geräuschvoll, als strengte es sie an, die Luft in ihre Lungen. »Das ist noch nie passiert, jedenfalls nicht, seit ich hier bin.«
Wir alle sahen Großmutter an, als müsste sie das Verhalten der Eunuchen verteidigen oder es erklären, indem sie zum Beispiel sagte, dass so etwas durchaus in ihrer langjährigen Gefangenschaft schon vorgekommen wäre.
Sie tat nichts von beidem, starrte nur geradeaus. Ihr bleiches Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
»Bitte.« Eine der neuen Frauen ergriff das Wort. Ihre Stimme war ein gepresstes Flüstern. »Ich muss mich erleichtern.«
Die Dringlichkeit in ihrem Tonfall schien auch mein Bedürfnis zu steigern. Andere rutschten unruhig auf ihren Kissen herum, als sie sich ihres Dranges ebenfalls bewusst wurden. Wir saßen da, ohne uns zu rühren, bis eine der neuen Frauen aufschrie. Sie rappelte sich auf, lief zu einer Staffelei, schnappte sich einen Topf mit eingetrockneter Farbe, stellte ihn auf den Boden, hob ihren Bitoo an und hockte sich darauf.
Ich hätte mich fast eingenässt, als ich das plätschernde Geräusch hörte.
Im nächsten Moment erhoben wir uns alle. Es war chaotisch. Großmutter und Sutkabde waren zu entkräftet, als dass sie sich schnell genug hätten bewegen können. Sie nässten sich ein. Wir anderen kämpften um die wenigen verbliebenen Farbtöpfe und füllten sie bis an den Rand.
In der darauffolgenden Stille sahen wir uns entsetzt an.
»Dafür werden wir gesteinigt«, meinte eine der neuen Frauen, am ganzen Körper bebend.
»Immer noch besser als das, was stattdessen geschehen wird«, erwiderte Sutkabde.
»Du flößt mit deiner Bemerkung den Neuen eine sie schwächende Furcht ein«, tadelte Großmutter sie. »Das ist ein Fehlverhalten. Ich übernehme die Pflicht, es zu melden.«
»Und ich werde die Pflicht übernehmen zu melden, dass du den Boden und deinen Bitoo beschmutzt hast«, sagte Misutvia rasch.
Ihren Worten folgte einen Herzschlag lang Stille. Dann brach das Chaos aus, als wir alle atemlos die Pflicht für uns beanspruchten, das Fehlverhalten der anderen zu melden, die in die Farbtöpfe uriniert hatten. Unsere Welt war so furchteinflößend und klein, dass es damals nicht nur Sinn zu haben schien, sondern sogar ein wichtiger Bestandteil des Überlebens war.
Nachdem alle ihre Ansprüche angemeldet hatten und unsere Köpfe vor Anspannung und Durst pochten, zogen wir uns wieder auf Kissen und Diwane zurück und warteten. Dösten. Als wir aufwachten, quälte uns der Durst. Es war bereits dunkel. Kein Tageslicht fiel durch die Fensterschlitze, sondern nur die kühle Nachtluft drang herein. In der Dunkelheit erblühte die Angst.
»Was ist das? Hat man uns im Stich gelassen, damit wir sterben?«, flüsterte eine körperlose Stimme im Dunkeln.
In dem folgenden Schweigen schlugen unsere Herzen schneller.
»Wer hat da gesprochen?«, fragte Großmutter. »Eine solche Furcht zu säen ist ein Fehlverhalten. Nenne deinen Namen.«
Das Schweigen, das ihrem Befehl folgte, war erstaunlich. Niemand antwortete. Mir lief eine Gänsehaut über den Arm, und ich fühlte mich einen Augenblick mutig.
»Wir könnten die Wachen um Wasser bitten, welche die Tür bewachen«, schlug ich vor. »Sie ist nicht verschlossen. Jemand könnte sie einen Spalt öffnen.«
Niemand würde so eine Kühnheit wagen.
»Wir werden warten«, verkündete Großmutter. Ihre heisere Stimme schien ein Teil der Finsternis zu sein. »Es ist eine Prüfung unserer Reinheit, unseres Gehorsams. Wir warten.«
»Also ist das schon einmal vorgekommen«, erklärte eine scharfe, klare Stimme. Misutvia.
Es folgte eine Pause. Dann antwortete Großmutter: »Nein.«
»Dann haben wir keinen Grund anzunehmen, dass es sich um eine Prüfung handeln könnte«, sagte Misutvia. »Wir sind nie zuvor geprüft worden. Und ich habe auch noch nie von so etwas gehört.«
»Du gibst zu, dass du müßigem Tratsch frönst. Klatsch ist ein Fehlverhalten. Ich beanspruche die Pflicht …«
»Ich gebe nichts dergleichen zu«, unterbrach Misutvia. Ihr Ärger war ebenso erstaunlich wie das Schweigen, das zuvor auf Großmutters Befehl an die Sprecherin, sich zu erklären, geantwortet hatte. »Diejenige, die den Klatsch
Weitere Kostenlose Bücher