Im Bann des Fluchträgers
Augen wirkten müde.
»Ravin va Lagar!«, rief sie, erhob sich und streckte ihm die Hände entgegen.
Ravin ging auf sie zu. Wie auf den Gängen, so schwiegen auch hier die Menschen, die zur Linken und zur Rechten der Königin an dem endlos langen Tisch im Halbkreis saßen. Es mochten hundert sein. Ravin sah Gesandte aus Lom, Jäger aus Tana, Händler aus Fiorin mit ihren grünen Kilts. Und auch Krieger aus den Steppen mit ihren Gesichtsmasken aus blauem Echsenleder. Außerdem waren Waldmenschen aus allen fünf Provinzen Tjärgs versammelt und die zwölf Räte, die strenge Mienen zur Schau trugen.
Die Königin wartete, bis er bei ihr angelangt war und sich verbeugte.
»Wie sehr freue ich mich, dass du wohlbehalten von deiner Reise zurückgekehrt bist!«, sagte sie.
Ihm fiel auf, dass auch ihr Blick sich verändert hatte. Es war nicht mehr der gütige, amüsierte Blick, an den er sich erinnerte. Sie musterte ihn wohlwollend, aber ernst, er glaubte sogar ein wenig Erstaunen in ihren Augen zu erkennen. Verwirrt bemerkte er, dass sie Auge in Auge standen und er nicht mehr zu ihr aufblicken musste. Der Flügelschlag des Traumfalters fuhr ihm über die Schläfen, unwillkürlich musste er lächeln. Der Kopfschmerz verschwand.
»Nimm Platz, Ravin«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl an ihrer Seite. Bevor Ravin sich fragen konnte, ob er den ganzen Weg wieder zurücklegen sollte um auf die andere Seite des Tisches zu gelangen, sprang bereits ein junger Diener herbei und klappte einen Teil des Tisches hoch. Ravin brauchte nur noch durch die Öffnung zu treten und sich auf dem Stuhl niederzulassen.
»Darian und deine Weggefährten haben dem Rat bereits berichtet«, fuhr die Königin fort und deutete nach links. Ravin sah sich um und hielt verblüfft inne. Neben ihm saßen Ladro und Mel Amie. Beim Hereinkommen hatte er sie nicht erkannt. Sie trugen Hofkleidung, lange weiße Mäntel aus gesponnenem Silberschaffell und glänzende grüne Hosen unter silbergrauen Hemden. Mel Amie zwinkerte ihm zu und deutete eine kleine Verbeugung an. Ja, ich bin’s wirklich, sagte diese Geste. Aber ich hätte mich auch nicht erkannt.
»Ich weiß, dass du nach der langen Reise gerne sofort zu deinem Bruder reiten würdest«, fuhr die Königin fort. »Doch wir bitten dich um ein wenig Geduld und deine Hilfe. Wie du von Laios gehört hast, ist dein Lager in Sicherheit.«
Er nickte.
»Ich danke dir«, fuhr die Königin leiser fort. »Denn ich weiß, dass du müde bist und voller Trauer.«
Endlich entdeckte Ravin Darian und Laios. Sie saßen links von der Königin und den Räten. Dort waren auch die beiden anderen Hofzauberer. Atandros’ Blick war, so schien es Ravin, voller Mitgefühl. Und Jarog – auf Jarogs Blick konnte er sich nach wie vor keinen Reim machen. Er sah wütend aus, die Zornesfalte auf seiner Stirn war steiler denn je. Ravin musste zwinkern, ein Bild aus ferner Vergangenheit leuchtete in seinem Gedächtnis auf und verblasste sofort wieder. Die Königin hatte sich an einen drahtigen Krieger gewandt, dessen graues Haar kurz geschnitten war. An seinen grünen Augen konnte Ravin erkennen, dass er vermutlich aus dem Wald stammte.
»Hauptmann Ljann wird berichten, was sich in der Nähe von Tamm zugetragen hat.«
Der Hauptmann stand auf und nickte.
»In den vergangenen Tagen wurden Gerüchte laut, dass fremde Horden Dörfer bedroht und niedergebrannt haben. Boten, die aus den näher gelegenen Dörfern stammten, bestätigten die Geschichten. Gestern haben wir einen ersten Rat abgehalten und erwogen, dass es Truppen aus Skaris sein könnten. Aber es gab keine Kriegserklärung und der Zirkel der Magier und die Shanjaar konnten keine Verbindung erfühlen. Und doch ist es seit heute Gewissheit: Es
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