Im Bann des Fluchträgers
Zehn Tage hindurch tobte der Sturm. Immer dort, wo wir uns befanden, war Wind. Die Schiffe drohten auseinander zu brechen. Wir fuhren so schnell, wie der schnellste Reiter reiten kann. Und weißt du, was uns erwartete, als wir in der Bucht ankamen? Ein Heer von Erloschenen! Wir wussten nicht, woher sie kamen. Sie waren nicht auf dem Schiff gefahren. Sie waren es, die bereits lange vor unserer Ankunft die Burg eingenommen hatten.«
»Die Erloschenen nahmen allein die Burg ein?«
Ruk zuckte hilflos die Schultern.
»Die Tore standen schon offen, als wir kamen.«
»Und Diolen und Badok? Waren sie auch in der Burg?«
»Nein, sie kamen mit uns.«
»Das heißt, die Erloschenen sind ein selbstständiges Heer?«
Ruk vergrub den Kopf wieder in den Händen. Seine Stimme klang dumpf und hoffnungslos.
»Wenn ich das wüsste. Es sind unglaublich viele. Wir wurden gemeinsam mit ihnen in den Kampf geschickt. Wir zogen in das Land der Seelenlosen um nicht selbst seelenlos zu werden. Und was wir hier fanden, waren Menschen, wie wir es sind. Menschen, die wir töten sollten.«
Er zog Ravin zu sich heran und flüsterte.
»Wir stießen auf eine Gruppe von Wächtern im Wald. Der Kampf dauerte sehr lange, Far wurde verletzt und …«, Ruk schluckte. Ravin sah, wie er mit den Tränen kämpfte, »… Keijl auch. Keijl stammte aus Skilmal – wie du, wenn du von dorther gekommen wärst. Ein Kämpfer aus dem Wald traf ihn mit der Schleuder an der Stirn. Keijl fiel. Wir ritten heran, um ihn zu bergen und aus der Kampflinie zu ziehen, da sah ich, dass Diolen den Kopf schüttelte. Er schüttelte den Kopf – und ein Erloschener hob das Schwert und tötete Keijl! Weil er nicht mehr kämpfen konnte. Galo, wir sind Futter für sie! Sie legen gar keinen Wert darauf, dass auch nur einer von uns lebend zurückkehrt.« Er schluchzte auf. »Und die so genannten Seelenlosen, das seid angeblich ihr aus Tjärg.« Wieder begann er zu lachen.
Ravins Herz war schwer geworden.
»Wir sind geflohen«, schloss Ruk. »Und wenn sie uns finden, werden sie uns töten.«
»Seid ihr die einzigen Horjun auf der Flucht?«
Ruk blickte in das Dickicht.
»Ich weiß es nicht, aber wenn die anderen Ähnliches sehen …«
Ravin dachte nach. Die Horjun waren in der Burg, doch die Erloschenen waren in der Überzahl. Dennoch – er würde seinen Plan, in die Burg zu gelangen, nicht aufgeben. Dass die Tore offen waren, konnte bedeuten, dass die Zauberer bereits tot waren – oder nur gefangen.
»Ruk! Gib mir deinen Helm. Und wir tauschen die Pferde.«
»Was?«
»Ich muss zur Burg reiten.«
»Bist du verrückt? Möchtest du ums Leben kommen?«
»Ihr drei reitet zur Königin.«
»Sie werden uns töten, wenn uns vorher nicht Diolens Erloschene aufspüren.«
»Die werden euch nicht finden. Ich werde dir beschreiben, wie ihr euch im Wald zurechtfindet. Mein Pferd wird euch dabei helfen. Es kennt die Witterung der Tjärgpferde. Lasst euch notfalls von den Truppen der Königin gefangen nehmen und fragt dann nach Darian Danalonn. Sagt, Ravin va Lagar ist auf dem Weg zur Burg. Und sagt Darian, dass ich Amina noch nicht gefunden habe und mir wünschte, noch einmal Sumal Bajis Lied zu hören. Sag ihm auch Folgendes: Ich werde früh am Morgen in der Burg sein.«
Ruks Stiefel waren zu groß, ebenso sein Helm, doch Ravin zurrte den Schaft mit Lederriemen fest, lernte das Passwort für das Burgtor und schnallte sich das Schwert um. Dann erklärte er Ruk den Weg.
»Viel Glück, kleiner Bruder aus Skilmal«, sagte Ruk und umarmte Ravin. »Auf dass wir uns wiedersehen!«
Ravin beobachtete, wie die drei Reiter im nachtdunklen Wald verschwanden, dann strich er dem fremden Pferd beruhigend über den Hals und lauschte in die Nacht. Einsamkeit überflutete ihn wie eine kalte Wöge, ließ ihn bebend und mit trockener Kehle zurück.
Zweige streiften seine
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