Im Bann des Fluchträgers
Schultern und seine Stirn, während er das Pferd durch den Wald führte. Leise trat er auf, jemand in der Nähe hätte das Gefühl gehabt, das Rascheln eines vorübertrottenden Ranjögs zu hören. Wie im Traum zählte er die Pfade, die seinen Weg kreuzten, und richtete den Blick zum Himmel, an dem ein bleicher, trauriger Mond hing. Ravin ertappte sich dabei, wie er wieder damit begann, die Schatten zu beobachten. Amina würde den Wald nie sehen, wie Ravin ihn jetzt vor sich sah. Eine Woran lebte in einer Welt ohne Licht, selbst der Mondschein konnte sie blenden. Sie würde die Nachtvögel nicht hören und den Duft von Moos und überreifen Jalafrüchten nicht wahrnehmen. In der Einsamkeit umflatterten ihn Gedanken und Erinnerungen mit gespenstischem Flügelschlag, bis sie so nahe waren, dass sie ihn schließlich berührten.
Er wollte gerade eine Wegmarke an einem Stamm ertasten, als der Traumfalter ihn fand. Sonst war die Berührung sacht wie ein flüchtiger Kuss gewesen. Doch diese hier war stärker und fühlte sich an, als würde eine Motte seine Schläfe umtanzen. Ravin wischte sich über die Stirn. Da begann die Motte zu kratzen. Ravin stieß einen Schreckenslaut aus und presste die Hände gegen den Kopf. Ein Brennen breitete sich auf seiner Stirn aus, floss seine Wangen hinunter, troff ihm in die Augen. Unwillkürlich ging er in die Knie. Flammen loderten vor seinen Augen empor, aus denen sich Laios erhob. »Ravin!«, sagte er und lächelte ihm ermutigend zu. »Reite zum Nordtor!«
Der Schmerz entließ Ravin so abrupt, wie eine Eule, die die Beute aus ihren Fängen gleiten lässt. Erschöpft fiel er auf das feuchte Moos. Als er die Augen öffnete, meinte er Naja über den Himmel tanzen zu sehen, doch es waren nur Funken des sengenden Schmerzes, den er soeben durchlebt hatte. Laios lebte also!
Langsam ritt er weiter, wobei er voller Vorsicht die Ranjögweiden durchquerte, die, wie er wusste, die Horjun meiden würden – wenn nicht, würden sie schnell lernen es zu tun. Fieberhaft überlegte er, was er vom Nordtor wusste. Es war der Flussseite zugekehrt und diente vermutlich als Handelstor. Zumindest hatte er gesehen, dass durch diesen Eingang die Lastenponys der Händler zu den Stallungen geführt wurden.
Endlich tat sich vor ihm die Lichtung auf, die zur Burg führte. Weit weg am Horizont, auf der Anhöhe, stand Gislans Burg, grau, wie von Rauchschwaden durchzogen. Feuer leuchteten auf den Türmen, vor den Grundfesten lag verkohlte Erde.
Er entdeckte eine Gruppe von Horjun, die auf das Nordtor zuritt. Die Haltung ihrer Körper und die gebeugten Hälse ihrer Pferde verrieten, dass sie einen langen Marsch hinter sich hatten – oder einen Kampf. Das Pferd war es, das als Erstes auf die Reiter reagierte. Es hob den Kopf, tänzelte und nahm Haltung an. Ravin konnte gar nicht anders, als sich ebenfalls aufzurichten. Er setzte Ruks viel zu großen Helm auf, drückte die Fersen nach unten und wurde zu Galo Bor, drittes Schiff, Amgars Truppe. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Nun war er ganz auf sich gestellt. In schleppendem Trab ritt er über die Wiese, jeden Moment den Pfeil erwartend, der ihn von vorne traf, oder einen Schleuderstein von hinten aus dem Wald. Sein Pferd stolperte vor Erschöpfung, doch es bewältigte die Strecke über die Wiese in holprigem Galopp. Ravin ließ es gewähren und versuchte lediglich, sich aufrecht zu halten und auch sonst den Anschein zu erwecken, als wäre er völlig rechtmäßig auf dem Weg zur Burg.
D
ie Wachen, die auf den Türmen Ausschau hielten, entdeckten ihn als Erste. Auf ihren fast unhörbaren Befehl hin regten sich die Horjun, die das Tor bewachten, und traten Ravin mit gezogenen Schwertern entgegen. Müde sahen ihre Gesichter aus, Bitterkeit und
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