Im Bann des Fluchträgers
wusste, dass Amina dich beschützte und uns verließ, um dich zu finden. Trotzdem hat er mich wie einen Idioten nach ihr suchen lassen.«
»Hast du nie daran gedacht, dass Ladro mit seinem Schweigen ein Versprechen hielt, das er Amina gegeben hatte?«
»Das ist das Nächste, was ich nicht verstehe«, sagte Ravin düster. »Warum hat sie mir nichts erzählt?«
»Ist das so schwer zu verstehen, Ravin? Sie war es, die mich in Gefahr gebracht hatte, indem sie den Woranzauber sprach. Natürlich fürchtete sie, du würdest sie hassen, wenn du das erführest. Sie wollte es wieder gutmachen. Und dafür hat sie viel auf sich genommen. Sie traf die schwerste Entscheidung ihres Lebens. Du siehst ja, dass sie inzwischen wieder mehr der Amina ähnelt, die du aus Jerriks Wald kanntest. Denn solange sie Kraft hat, kann die Woran in ihr schlafen. Wird sie jedoch schwach, beginnt der Blutmond von ihrer Seele Besitz zu ergreifen. Als sie mich und den Gor fand, hatte sie die Wahl: Kraft für sich, um keine Woran zu werden, oder Kraft für mich, um mich vor dem Tod zu bewahren, den die dunklen Kräften des Gor mir bald gebracht hätten. Weit entfernt in Skaris hat sie sich für mich entschieden, einen Unbekannten, der durch ihre Schuld in Gefahr war.«
»Trotzdem wurde sie nicht zur Woran.«
Jolon lächelte.
»Ja«, sagte er. »Und darüber ist sie selbst am meisten erstaunt.«
Ravin blickte nachdenklich auf das Licht, das durch die Ritzen eines Zeltes schimmerte. Jolon seufzte und stützte sich auf seinen Gehstock.
»Wie dem auch sei, Ravin«, sagte er leise. »Ich danke dir, dass du mich in all den Monden und Gefahren nicht verlassen hast.«
Ravin schluckte.
»Ich habe oft gezweifelt.«
»Das tat Amina auch. Und ich ebenfalls. Es gab so viele Momente, in denen ich bereit war aufzugeben und über die lichte Grenze zu gehen, damit es ein Ende hat. Ich sah dich verwundet nach dem Kampf in Jerriks Wald. Ich sah dich mit verbranntem Mund und fiebrigen Augen im Horjun-Gewand und bewusstlos auf dem Felsen, nachdem Skigga dich getroffen hatte. Doch immer wieder bist du aufgestanden.« Sein Lächeln wurde breiter. Eine Spur von Wehmut war darin. »Ich bin für dich nicht mehr der, der ich war. Und auch du, Ravin, bist nicht mehr der Junge, der nichts anderes als seinen Wald kannte. Mein Bruder ist erwachsen geworden. Und in vielen Dingen ist er bereits weiser als ich.« Die Wärme, die in seiner Stimme mitschwang, tat Ravin gut. »Dein Platz ist nicht länger an meiner Seite, Ravin.«
»Aber du bist noch schwach!«
Jolon schüttelte den Kopf.
»Andere können mich stützen. Bald werde ich wieder ohne Hilfe laufen können. Ravin, dir bleibt nicht viel Zeit, bis deine Freunde nach Skaris zurückkehren. Also gehe zu Ladro, zu Mel Amie. Und zu Amina. Zuallererst aber gehe zu Shanjaar Darian. Er wartet auf dich.«
Ravin blickte seinen Bruder an und sah ihn zum ersten Mal mit den Augen der Kranken, die seinen Rat und Heilzauber suchten. Schließlich ließ er Jolons Arm los und ging schweren Herzens zu Laios’ Grab zurück. Er drehte sich nicht um, aber er wusste, dass Jolon schwankend auf seinen Stock gestützt dastand und ihm nachblickte. Mit jedem Schritt schien die Last, die eben noch auf seinen Schultern geruht hatte, leichter zu werden. Doch seltsamerweise wurden seine Traurigkeit und das Gefühl des Verlustes schlimmer. Es fühlte sich so schutzlos, als würde ihm auf einmal ein Bein oder ein Arm fehlen. Zum ersten Mal, so wurde ihm bewusst, ging er einen Weg ohne seinen Bruder.
Als Darian Ravins Schritte hörte, hob er den Kopf und schlug die Kapuze zurück. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht.
»Ravin!«, rief er. »Gerade habe ich an dich gedacht.«
»Shanjaar Darian, ich sehe, du bist hungrig«, sagte Ravin und zog aus der Tasche, die er unter dem Mantel trug, eine halbe Jalafrucht hervor. Darian nahm
Weitere Kostenlose Bücher