Im Bann des Fluchträgers
ich von meiner Mutter gelernt habe. Damals, als Jerrik mir den Gor anvertraute, lauerten Badoks Krieger uns auf. Jerrik gab ihn mir vor dem Kampf und bat mich ihn in Sicherheit zu bringen. Auf dem Weg stellten mich vier Horjun – und da sprach ich den Schleierzauber, den mich meine Mutter gelehrt hatte. Erstmals nutzte ich die Magie der Woran um den Stein unsichtbar zu machen. Doch der Zauber entglitt mir.«
»Der Gor verschwand?«
»Er und die Horjun. Plötzlich war ich allein im Wald. Ich habe lange gesucht. Nachts in meinen Träumen sah ich, dass jemand an einem weit entfernten Ort den Gor gefunden hatte und ihn hütete – bewacht von den Seelen der Horjun.«
»Die Dämonen am Feuer.«
Sie nickte.
»Erst als ihr in unser Lager kamt, habe ich geahnt, wo ich nach dem Gor, der die Form eines Kristalls angenommen hatte, suchen muss.«
»Dann war das Lied, das Ravin von den Hallgespenstern gelernt hat, der Schleierzauber der Woran«, flüsterte Darian. »Und vorhin hast du ihn mit demselben Spruch wieder aufgehoben.«
Ravin hatte die Lippen zusammengepresst. Eine hilflose Wut, die er sich nicht erklären konnte, ließ ihn zittern. Amina trat zu ihm. Der Schatten umgab sie, dennoch sah sie immer noch aus wie Amina aus Jerriks Lager. Und aus irgendeinem Grund schmerzte dieser Anblick ihn mehr, als jede Woranfratze es hätte tun können.
»Ich danke dir, dass du das Schwert nicht genommen hast, Ravin. Ich wusste, du würdest mir vertrauen.«
»So, das wusstest du«, sagte er bitter. »Der dumme Waldmensch würde dir immer vertrauen, nicht wahr?«
Sie sah ihn erschrocken an.
»Ich habe gedacht, du wärst tot!«, schrie Ravin. »Ich habe dich gesucht und mich mit Ladro gestritten, weil ich ihm vorwarf, er hätte dich einfach aufgegeben.«
Amina senkte den Blick. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie sah hilflos aus. Das irritierte Ravin beinahe noch mehr, als wenn sie wütend geworden wäre.
»Aber du kannst mir vertrauen«, sagte sie leise. »Und du bist alles andere als ein dummer Waldmensch!«
»Und du keine Woran«, sagte er bitter und wandte sich von ihr ab.
IV
Feuer und Wasser
Laios wurde bei Anbruch der Nacht auf dem Friedhof der Zauberer am Alschhain beerdigt. An seinem Grab waren die Shanjaar aus dem Wald versammelt. Jeder von ihnen trug eine Fackel. Am Kopfende des Grabes, in dem Laios’ Körper auf einem Lager von Tanistannenzweigen gebettet lag, standen Atandros und Darian in der Festtracht der Hofzauberer – weite dunkelgrüne Mäntel mit seidenen Ärmelaufschlägen, die mit silbernen Pferden bestickt waren.
Gestützt auf Ravin hielt Jolon mit ernstem Gesicht und vor Anstrengung zitternder Hand die Fackel. Verstohlen betrachtete Ravin ihn. Wie fremd sein Bruder ihm erschien nach den Ewigkeiten, die seit seinem Weggang aus Tjärg vergangen waren. Es war Ravin unmöglich, sich in seiner Gegenwart noch länger als der kleine Bruder zu fühlen. Vielmehr spürte er eine Zärtlichkeit für Jolon, den Menschen – doch nicht mehr für Jolon, den starken, überlegenen Bruder.
Die vergangenen zwei Tage waren anstrengend gewesen. Obwohl die Königin darauf bestanden hatte, dass Ravin seine verwundete Schulter schonte, hatte er mit Darian Erkundungsritte unternommen. Die Sturmflut der Naj hatte das Land vor der Burg verwüstet. Die wenigen Bäume, die nicht vom Wasser entwurzelt und fortgeschwemmt worden waren oder geknickt wie gefallene Krieger an den Ufern lagen, hatten die Feuernymphen verbrannt. In einigen Teilen des Waldes wüteten die Feuer immer noch. Shanjaar, Krieger und Waldbewohner arbeiteten gemeinsam daran, die Brände zu löschen. Der Nieselregen, der eingesetzt hatte, erleichterte diese Aufgabe.
Hier und da flackerten
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