Im Bann des Fluchträgers
Ausdruck von tiefer und verzweifelter Konzentration, so als würde sie noch im Schlaf unermüdlich suchen – nach Ladro, nach Jerrik oder nach etwas ganz anderem, was sie Ravin niemals verraten würde.
Seine Träume hatten sich verändert. Jolons Anblick tröstete ihn nicht mehr. Nach wie vor saß sein Bruder mit geschlossenen Augen am Feuer – und doch beunruhigte Ravin etwas, was sich am Rande seines Blickfeldes bewegte. Etwas Dunkles, das die Dämonen im Feuer innehalten und ihre Pupillen aufleuchten ließ. Ravin schauderte, wenn er nach diesen Träumen erwachte und Hallgespenster ihm wieder die Ohren voll heulten.
Schließlich verloren sie die letzte karge Spur. Auch von Darians Botschaften hatten sie seit Tagen keine gesehen. Hoch ragte das Gebirge zu ihrer Linken auf.
»Sie müssen hier durchgekommen sein«, sagte Amina entmutigt. »Aber nun scheinen sie sich in Luft aufgelöst zu haben.«
»Vielleicht gibt es einen Weg, der direkt durch das Gebirge führt?«
Die Sonne begann hinter den Bergen unterzugehen, der Wind ließ sie frösteln. Der Sommer ließ sich hier viel Zeit.
»Hast du dir Skaris so vorgestellt, Ravin va Lagar?«
Wieder der spöttische Unterton, doch seltsamerweise tröstete ihn Aminas Stimme heute. Er lächelte.
»Nein, Amina. Das Land habe ich mir viel düsterer und gefährlicher vorgestellt. Doch im Grunde ist es schön, schau dich um!« Mit einer ausholenden Armbewegung umfasste er den Sonnenuntergang, das violette Felsgestein, die karge Landschaft. »Ich habe noch nie so viele unterschiedliche Gesteine gesehen. Und so viele Flechten und verschiedene Bäume.«
»Und so viele Hallgespenster auf einem Haufen«, warf sie ein.
»Ja, da hast du Recht.«
»Ravin?«
»Hm?«
»Du träumst immer noch von Jolon, nicht wahr?«
Er seufzte.
»Ich weiß nicht, wen ich mehr vermisse – Jolon, der zwar schläft, aber von der Königin beschützt wird, oder Darian, der in Gefahr ist.«
»Du machst dir Sorgen, dass du eine der beiden Aufgaben nicht bewältigen kannst. Die Quelle der Skaardja fließt nicht dort, wo du Darian suchen musst.«
Er schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter.
»Die Quelle kann überall sein«, brachte er hervor. »Ich werde Skaardja finden – sobald ich Darian befreit habe.«
Amina schwieg. Der Abendschatten hatte sich auf ihr Gesicht gelegt, nur undeutlich erkannte er ihre Augen als dunkle Flecken in einem hellen Gesicht.
»Ich vermisse Gran und Santez – und Ilnor. Ilnor besonders. Ich habe mich mit ihm gestritten, kurz bevor wir euch auf der Lichtung gefunden hatten. Ich wünschte, ich hätte mich von ihm verabschieden können.«
Ravin zog seinen Mantel enger um die Schultern.
»Erzähl mir von Jolon!«, bat sie plötzlich.
»Was soll ich dir von ihm erzählen?«
»Irgendetwas! Wie alt ist er? Wie lebt er? Was für ein Shanjaar ist er?«
Er räusperte sich.
»Jolon ist älter als ich. Er behauptet, er bekäme bereits graue Haare. Er lacht gern, aber meistens ist er ernst. Er ist ein Waldshanjaar und heilt die Menschen mit Kräutern und mit Hilfe der Geister. Manchmal ist er viele Wochen unterwegs.«
»Wie sieht er aus?«
»Nun … er ist größer als ich, seine Augen sind grün wie meine, an der Schläfe hat er eine Narbe. In meinem Traum sehe ich ihn an einem Feuer sitzen, in dem Dämonenfratzen leuchten. Er ist ganz blass und schwach.«
»Er hat eine Narbe?«
»Ja, hier.« Ravin deutete auf seine linke Schläfe. »Diese Wunde habe ich ihm als Kind mit der Steinschleuder zugefügt. Ich habe versucht eine Jalafrucht vom Baum zu holen. Die Narbe sieht aus wie ein Bogen und endet an der Augenbraue.«
Er bemerkte eine Bewegung an seiner Seite und sah hoch. Amina war aufgestanden und ging zu dem größeren der beiden schwarzen Pferde. Es
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