Im Bann des Fluchträgers
wandte ihr den Kopf zu, seine blinden pupillenlosen Augen leuchteten wie bleiche Quallen in einem schwarzen Meer.
»Amina! Was ist?«, rief er. Mit ein paar Schritten war er bei ihr. Sie sah ihn nicht an. Plötzlich schüttelte sie ein jammervolles Schluchzen.
»Lass mich in Ruhe, Ravin!«, sagte sie gepresst. Ravin schluckte und fühlte, wie ihm der Kummer ebenfalls die Kehle zuschnürte.
»Amina, du hast mich gebeten von Jolon …«
»Ich weiß, worum ich dich gebeten habe!«, erwiderte sie und schniefte.
»Es ist nur … Ich habe auch einen Bruder – und er ist sehr krank!«
»Du hast mir nie erzählt …«
»Und ich werde es dir nicht erzählen! Nie, niemals!«, schrie sie und ließ ihn einfach stehen. Verwirrt blickte ihr Ravin nach, dann kehrte er zum Lagerplatz zurück. Allein gelassen mit dem ganzen aufgewühlten Kummer setzte er sich hin, schlang die Arme um seine Knie und lauschte dem pochenden Schmerz in seiner Brust.
Sie ritten in derselben Nacht weiter. Trotz der Dunkelheit schritten ihre blinden Pferde weit aus.
»Lass uns tanzen!«, flüsterte eine lachende Stimme ihm ins Ohr.
»Gleich geht die Sonne auf, du musst Jarog benachrichtigen!«, raunte eine tiefe Männerstimme. Ravin horchte auf, als er den Namen des Hofzauberers vernahm. Doch dieser Satz, den das Hallgespenst weitertrug, mochte bereits viele Jahre alt sein, als Jarog durch Skaris reiste. Noch wahrscheinlicher war, dass es sich um einen anderen Mann dieses Namens handelte. Nur die Waldmenschen achteten darauf, dass keine zwei Menschen denselben Namen trugen.
Sie kamen immer näher an die Berge, die im grauen Dämmerlicht des Morgens hoch und violett aufragten. Verborgen im hohen Sommergras führte ein schmaler Weg zum Pass. Amina deutete dorthin, wo der Weg sich hinter einer Ansammlung von kleinwüchsigen, mageren Tannen am Fuß des Berges nach oben schraubte. Dieser Weg führte offensichtlich wieder in einem langen Bogen halb um den Berg herum. Es würde sie Tage kosten, den hohen Pass zu überqueren.
Ravins Gefühl sagte ihm, dass es einen schnelleren Weg über das Gebirge geben musste. Links vom Weg, weit unterhalb der Tanistannen, hatte er einen Pfad entdeckt, der in eine Höhle führte. Vielleicht war es wirklich nur eine Höhle und drinnen wartete eine schlecht gelaunte Martiskatze. Vielleicht war es aber auch ein Tunnel, der durch den Berg führte. Am Pass könnten Wachen sein, überlegte er weiter. Vielleicht war es besser, Schleichwege zu suchen, statt dem Tross zu folgen. Der Weg verbreiterte sich und wurde zu einer Straße, was Ravin in seinem Argwohn noch bestärkte. Inzwischen waren sie direkt vor dem Berg. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um den steil nach oben führenden Weg verfolgen zu können. Wieder einmal wünschte er sich seine trittsichere Vaju herbei, denn er zweifelte, ob das massige schwarze Pferd mit den hölzernen Bewegungen den Aufstieg bewältigen würde. Er suchte mit den Augen nach dem Pfad, den er gestern bemerkt hatte, und fand ihn.
»Da müssen wir hoch«, stellte Amina fest. »Am besten, wir ruhen uns aus, denn es wird anstrengend.«
»Ein Mensch kann nicht zwei Wege gehen«, murmelte Ravin beim Blick auf den Berg. »Das hat Jolon gesagt, wenn ich mich nicht entscheiden konnte einen anstrengenden Weg zu reiten.«
Sie sah an ihm vorbei und tat, als hätte er kein Wort gesagt. Verärgert bemerkte er, dass sie immer noch nur das Nötigste mit ihm sprach. Gerne hätte er mehr über ihren Bruder erfahren, doch er wusste, dass Amina dieses Geheimnis wie einen schmerzenden Splitter tief in ihrer Seele trug.
»Amina, ich glaube, es gibt einen zweiten Weg. Siehst du den Pfad dort, der in die Höhle führt?«
Sie folgte seinem ausgestreckten Arm mit ihrem Blick und zuckte die Schultern.
»Es gibt viele
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