Im Bann des Fluchträgers
wieder seinen Namen rief. Ladro schlug die Augen auf. Amina sah ihn an, als wäre er ein Geist, dann umarmte sie ihn stumm und ließ ihn lange nicht los. Ravin wandte sich ab und strich Vaju durch die Mähne. Er wusste, er sollte sich freuen, dass Ladro lebte, und natürlich tat er das auch. Dennoch versetzte ihm der Anblick von Amina, die um Ladro weinte, einen seltsam dumpfen Stich in der Magengegend.
Ladro war nur leicht verletzt. Ein Schwerthieb hatte ihn getroffen, doch das Eisen war an seinem Arm abgerutscht und hatte ihm nur eine Streifwunde geschlagen.
»Wo sind die anderen?«, fragte Ravin. »Darian? Wo ist er?«
Ladro deutete nach Süden.
»Ich glaube, sie sind dorthin geritten. Zum Tonjun-Plateau.«
»Waren es die Horjun, die auch uns verfolgt haben?«
Ladro stöhnte.
»Nein, ihnen konnten wir entfliehen. Aber als wir weiterritten … Sie haben uns überrumpelt. Diolen führte sie an. Eine Gruppe von Erloschenen! Sie haben uns gejagt. Es kam zu einem Handgemenge. Ich stürzte vom Pferd. Dann weiß ich nichts mehr. Sie dachten wohl, ich sei tot.«
»Ich wusste es«, flüsterte Amina. »Ich habe die lichte Grenze gesehen.«
»Nein!«, schrie Ravin und sprang auf. Amina sah ihn erschrocken an. Ihm war, als hätte sie das Todesurteil über Darian gesprochen.
»Es gibt keine lichte Grenze«, zischte er. »Nicht, solange ich noch reiten kann!«
Als er in Vajus Mähne griff, spürte er Aminas Hand auf seiner Schulter. Ihr Gesicht war verschlossen und hart.
»Ich komme mit«, sagte sie.
Vaju jagte über den steinigen Grund dahin, Steine und Felssplitter sausten an Ravins Ohren vorbei. Im Ritt tastete er nach seiner Schleuder und zog sie unter seinem Mantel hervor. Aminas Atem brannte an seiner Wange, ihre Hand deutete auf einen Felsensaum und einige Büsche. Schlitternd kam Vaju zum Stehen, sie sprangen ab und rannten zum Rand. Amina war als Erste dort. Sie warf sich zu Boden und zerrte auch Ravin auf die Knie, noch bevor er anhalten konnte. Er stürzte, schürfte sich die Hände auf und wollte schon protestieren – dann sah auch er es.
Klein wie Spielzeugfiguren aus Holz waren sie. Es mochten zwanzig sein, vielleicht auch dreißig. Sie standen im Halbrund auf der Felszunge aus weißem Stein. Die Dornen in den Mähnen ihrer Pferde blitzten in der Morgensonne, geschliffene Hufeisen klirrten auf Fels. Nur das steingraue Pferd stand reglos.
Diolens Mantel wehte in der Sommerbrise, die über das Plateau strich. Ravin konnte Diolens Gesicht nicht sehen, doch er war sicher, dass er lächelte. Darian und Sella saßen auf Dondo, die Front der Erloschenen vor sich. Hinter ihnen klaffte der Abgrund. Sogar aus dieser Entfernung erkannte Ravin Sellas Augen – oh diese Augen! Sein Herz krampfte sich zusammen, er biss sich auf die Lippen und überlegte fieberhaft.
In diesem Moment zog Darian sein Schwert und griff an.
Die Erloschenen lachten. Ihre Pferde bäumten sich auf und preschten den zwei Reitern auf dem weißen Pferd entgegen. Ein Erloschener kam dicht an sie heran. Schon zuckte sein Schwert herab, doch plötzlich schwankte er im Sattel und Ravin sah nur noch Nebel und ein reiterloses, bockendes Pferd, das mit angelegten Ohren davonjagte.
Darian riss Dondo herum. Ravin konnte erkennen, dass er einen anderen Reiter anblickte und eine hektische Geste machte – der Erloschene verschwand. Hoch bauschte sich sein schwarzer Mantel und fiel leer in sich zusammen. Ravin schnappte nach Luft, wollte aufspringen, doch Amina hielt ihn fest. Ihre Hand war wie aus Eisen, schmerzhaft ihr Griff.
»Bleib!«, zischte sie. »Bis wir unten sind, haben sie ihn längst getötet. Er nutzt seine Magie, siehst du das nicht? Er hat die Macht, die Erloschenen zu zerstören. Ich werde ihm helfen!«
Sie schloss die Augen, wisperte, sang und befahl.
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