Im Bann des Fluchträgers
Ravin glaubte zu erkennen, dass sie unter dem schweren Stoff eine zweite Gestalt verbarg.
Manchmal wenn die Sonne so hoch stand, dass sie ohne Schatten ritten, verschwammen auch am Tag die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit. In diesen Stunden schien es Ravin, als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre der Tjärgwald schon lange Vergangenheit und Gislans Burg von Unkraut überwuchert, während er, Ravin, ohne Hoffnung und traumlos immer noch durch endlose Flusstäler wanderte. Auch Mel Amie und die anderen bemerkten, dass das ständige Rauschen, das sie begleitete, etwas in ihnen freispülte, etwas herauslöste aus dem Gestein ihrer Erinnerungen. Der Fluss strömte durch ihre Gedanken und Träume und gab all die Bilder frei, die sie in sich verborgen hatten, um sie erst sehr viel später an die Oberfläche zu holen.
»Ich muss ständig an Jerrik denken, wo immer er jetzt auch ist«, gestand Mel Amie.
»Und ich sehe unser Gefängnis vor mir«, sagte Ladro. »Ich kann sogar die schwelenden Fackeln riechen und das Moos, das an den Wänden wuchs. Es roch wie feuchtes Eisen, erinnert ihr euch?«
Sie schauderten und schwiegen.
Nur Jolon blieb verschollen und Ravin sorgte sich umso mehr.
»Das muss nichts Schlimmes bedeuten«, sagte Darian. »Es kann sein, dass er seine Kraft sammelt. Oder die Königin ist selbst schlaflos oder so viele Träume berühren sie, dass sie sich gerade von dir abgewandt hat. Vielleicht gibt es nichts Neues und sie spürt, dass wir in Sicherheit sind. Sorge dich nicht um deinen Bruder.«
»Träumst du von Laios und der Burg?«
Darian schüttelte den Kopf.
»Ich träume nicht mehr«, sagte er und verknotete die Enden seiner Zügel, um sie Dondo locker über den Hals zu werfen. »Sollen die träumen, die noch Träume im Herzen haben.«
Je weiter sie ins Flusstal ritten, desto heißer wurde es. Die Sonne versengte ihnen die Haut, die sich an ihren Wangen und bloßen Armen zu schälen begann. Das Wasser im Fluss war lauwarm und träge, die Fische bewegten sich kaum. Nach und nach wurde der Fluss breiter und blanker, die Wellen beruhigten sich und verschwanden schließlich bis auf ein paar kleine Strudel, die unvermutet auftauchten und sich wieder in Nichts auflösten. Ravin war sich nicht sicher, ob er nicht hier und da eine durchsichtige Flosse in der Sonne glänzen sah. Manchmal schien es ihm sogar, als winkte eine Hand ihm zu. Es mochte ein Naj sein, doch wenn es hier einen gab, dann kam er niemals näher als bis zur Flussmitte.
Amina ritt in sich versunken, blind für die Schönheit des Flusstals. Ihr Banty verlor sein Fell, seine Schecken verblassten und bleichten aus, bis das neue Fell schließlich die Farbe der Felsen angenommen hatte. Niemand außer Ravin schien sich um Amina ernsthaft Sorgen zu machen. Hager und hart war sie geworden, die Wunde an ihrer Schläfe war recht gut verheilt und ihre Augen glühten nicht mehr vor Fieber. Dennoch beunruhigte es Ravin, sie schlafen zu sehen. Sie schien kaum zu atmen und lag starr da, mit zusammengezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen, als würden qualvolle Träume sie heimsuchen. Wenn Ravin sie danach fragte, lächelte sie und sagte, sie habe nicht geträumt. Doch Ravin kannte den Schmerz zu gut, den Träume einem Menschen bereiten konnten, um es nicht besser zu wissen.
Darian ritt in diesen Tagen oft an Ravins Seite oder ging zu Fuß, wenn Vaju und Dondo allein im Wasser wateten. Immer noch war er still und nachdenklich. Ravin fiel auf, dass er kein Wort mehr über Sella verlor. Er erschien ihm viel älter. Trotzdem ging er nicht blind durch das Flusstal.
»Wir werden beobachtet«, sagte er einmal, als Vaju gerade durch das Wasser trottete und sich in der Mitte des Flusses ein Strudel bildete. »Da drüben ist er.«
»Ein
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