Im Bann des Fluchträgers
Banty.
Die Sonne stieg rasch und brannte ihnen, lange bevor es Mittag wurde, auf Gesichter, Hände und Nacken. Ein Schwarm der roten Vögel folgte ihnen. Ihr Gefieder blitzte in der sirrenden Luft. Manchmal wurden sie frech und flogen so dicht an ihnen vorbei, dass Ravin zusammenzuckte, weil ein Flügel an seinem Ohr vorbeischnappte. Sooft er einem der gaukelnden Vögel nachblickte, kam ihm Sella in den Sinn. Vielleicht war einer von ihnen ja wirklich Sellas Seele, wie Amina es hoffte?
Sie ritten, bis die Schatten sich um sie schlossen wie eine zackige Faust. Während der wenigen Stunden, die sie sich als Rast gönnten, wagten sie nicht ein Feuer anzuzünden, sondern saßen mit dem Rücken zu den Felsen und schliefen abwechselnd einen traumlosen, kurzen Schlaf. Mitten in der Nacht machten sie sich wieder auf den Weg, ganz auf Vaju und Dondo vertrauend, die wie zwei bleiche Laternen den Zug anführten und traumwandlerisch alle gefährlichen Stellen Umschriften. Noch bevor die Sonne aufging, erkannten sie von fern den Fluss, der sich grau und vernebelt wie eine Rauchspur durch das Tal zog.
»Geveck! Geveck!«, schrien die Vögel ein letztes Mal, bevor sie abdrehten und in die Berge zurückflogen.
Der Fluss wand sich zwischen steil aufragenden Felswänden entlang. Überall in den Wänden gab es Höhlen und unterspülte Gänge aus einer Zeit, als der Fluss sehr viel mächtiger und größer gewesen war. Ravin entdeckte weit über Augenhöhe Muscheln und Tiere, mit langen geschuppten Beinen, die mit dem Fels verwachsen waren, und dachte daran, dass der Fluss vor unvorstellbar vielen Jahren den ganzen Felsspalt ausgefüllt haben musste. In der Schlucht war es gespenstisch still, keine Vögel, kaum Wind, nur das vereinzelte Zirpen von Insekten, die im niedrigen Buschwerk saßen, war zu hören. Nicht ein einziges Hallgespenst folgte ihren Spuren, nur das Echo ihrer eigenen knirschenden Schritte brach sich an den Felsen. Sie wanderten über Geröll und Muschelsand. Tagsüber folgten sie dem Fluss, der sie wie eine glitzernde Drachenschlange begleitete und nachts gespenstisch hell leuchtete. An manchen Tagen hatte die Schlange eine schmale schwarze Zeichnung auf dem Rücken, ein Band, das darauf hinwies, dass mitten im Flussbett ein großer Spalt klaffte, der tief, sehr tief abfiel. Die Regenbogenpferde wateten unbekümmert im Uferwasser, scheuchten die schwerfälligen Fische auf, die auf dem Grund vor sich hin dösten, tänzelten, schüttelten die Mähnen und wälzten sich in den Fluten, sobald Ravin und Darian ihnen die Sättel abnahmen. Mehr als einmal glaubte Ravin, im Rauschen des Flusses Stimmen zu vernehmen und im nächtlichen Nebel die Umrisse von Dingen zu sehen, die er nicht sehen wollte. In solchen Nächten verschloss er die Augen vor den körperlosen Gestalten, die aus dem Fluss aufstiegen, und versuchte mit aller Macht Jolon zu finden.
Er tastete mit seinen Gedanken nach dem Traumfalter, stellte sich Jolons Gesicht vor, dachte so sehr an den Tjärgwald, dass er den frischen, scharfen Duft von brennendem Jalaholz roch, und spürte, wie das weiche Gras kühlfeucht und federnd unter seinen nackten Fußsohlen nachgab. Der Duft von Fleisch über einem Winterfeuer ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen und er sah, wie ein frisch gegerbtes Fell über das Feuer gehängt wurde. Und da waren der einbeinige Jäger Finn und seine alte Tante Dila neben dem Feuer und schnitten das Fleisch in Streifen um es zum Trocknen ans Feuer zu legen. Doch Jolon sah er nicht. Alles, was er erkennen konnte, bevor er in einen schweren, traumlosen Schlaf fiel, war die namenlose Gestalt, die er bereits aus früheren Träumen kannte. Sie hielt ihren langen schwarzen Mantel ausgebreitet.
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