Im Bann des Highlanders
»Ich sage Vater, dass er die Suche abbrechen kann, weil ich sie gefunden habe.«
Màiri stand rasch auf und war mit wenigen Schritten bei ihrem Bruder, der sie um Haupteslänge überragte. Verzweifelt rang sie die Hände, als sie flehte: »Tu es nicht, ich bitte dich! Wenn du Seonag verrätst, verrätst du gleichzeitig mich, deine Schwester! Vater wird mich und meine Söhne aus dem Clan verstoßen, das kannst du doch nicht wollen.«
Unentschlossen blieb Ewan stehen und schien nachzudenken. Dann warf er einen letzten flüchtigen Blick zu Joan und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Diese war mittlerweile so bleich wie ein Leichentuch geworden und starrte noch minutenlang der heftig ins Schloss geworfenen Tür nach, aus Furcht, der schottische Hüne könne jederzeit wieder auftauchen, im Schlepptau ein paar finster dreinblickende Clansmänner.
»Mach dir keine Sorgen, er wird nichts verraten.« Màiri bedeckte Jonas zitternde Hände mit ihren eigenen.
»Dadurch würde er auch mir schaden, und das wird er niemals riskieren. Ewan und ich haben eine sehr enge Bindung; er ist der einzige Mensch auf dieser Welt, der alles von mir weiß, und umgekehrt ist es ebenso.« Ihre Stimme klang fest, doch ein Hauch von Unsicherheit war nicht zu überhören.
War Ewans Liebe zu seiner Schwester wirklich größer als die Gehorsamspflicht gegenüber seinem Vater?
In dieser Nacht schlief Joan wieder kaum, beim kleinsten Geräusch schreckte sie hoch und blickte sich verwirrt in der Nische um, in der es so dunkel wie in einem Grab war.
Bevor Màiri am Vorabend gegangen war, hatte sie Joan versprochen, noch einmal mit ihrem Bruder zu reden und ihm klar zu machen, dass er auch Màiris Leben gefährdete, wenn er plaudern würde.
Stundenlang lag Joan wach, sie rechnete damit, dass man jeden Augenblick kommen würde, um sie zu holen. Mit Schaudern dachte sie an Ceana Mathesons schreckliche Strafe; Laird Dòmhnall war nicht nur streng, sondern grausam – und dazu abergläubisch.
Fieberhaft überlegte sie, ob es nicht doch eine Fluchtmöglichkeit aus der Burg gab, denn nicht nur Ewan war eine Gefahr, sondern auch Màiris Mann, der jeden Tag von seinen Streifzügen in den Bergen zurückkommen konnte. Joan zweifelte nicht daran, dass Tèarlach sie auf der Stelle verraten würde, wenn er sie entdeckte.
Es musste doch einen zweiten Ausgang bei einem so riesigen Gebäude geben! Gleichzeitig fiel ihr ein, gelesen zu haben, dass Glenbharr Castle wie die meisten Burgen nur durch das Haupttor zu erreichen war; aus Angst vor Feinden, die durch Nebenpforten eindringen konnten, gab es keine weiteren Tore.
Also hatte Màiri nicht gelogen, als sie behauptet hatte, dass eine Flucht durch das scharf bewachte Burgtor unmöglich war. Eine Flucht aus dem Fenster war ebenso ausgeschlossen.
Vor Erleichterung stöhnte Joan leise auf, als sie Màiris vereinbartes Klopfen hörte. Die junge Schottin trat mit zuversichtlichem Lächeln ein und balancierte das Frühstückstablett zum Tisch. Seitdem auch Joan sich im Weben übte, war nicht mehr viel Platz auf der blank gescheuerten Tischplatte.
»Hast du mit deinem Bruder gesprochen?«, fragte Joan mit unsicherer Stimme, als sie sich an den Tisch setzte und sich das Haar flocht, um das weiße Häubchen aufzusetzen, das Màiri ihr bereits vor Tagen gegeben hatte. Bisher hatte sich Joan geweigert, es zu tragen, aber nach dem schockierenden Ereignis musste Màiri sie nicht mehr daran erinnern. Ewans Blick hatte sich in Joans feuerrotem Haar verfangen, wie gebannt hatte er darauf gestarrt, in einer Mischung aus Furcht und Abscheu.
»Aye, er hat mir noch einmal bittere Vorwürfe gemacht und über meinen Leichtsinn geschimpft; natürlich musste ich ihm jedes Detail der Flucht verraten. Aber dann versprach er, Vater nichts zu sagen.«
»Kann man sich auf sein Wort verlassen?« Ungeduldig versuchte Joan ihre Haarpracht unter die ungewohnte Haube zu quetschen, doch erst, als Màiri eingriff und geschickt die Flechten um Joans Kopf schlang, klappte es. »Ich traue deinem Bruder nicht, denn immerhin habe ich es ihm zu verdanken, dass ich im Kerker gelandet bin und mich verstecken muss.«
Langsam setzte sich Màiri ihr gegenüber, legte die Hände in den Schoß und erwiderte nachdenklich: »Ich habe mich heute Morgen lange mit Ewan unterhalten, er hat dich mit zur Burg genommen, um mehr von dir zu erfahren. Es kam ihm verdächtig vor, dass du dich vor einem Trupp Dragoner versteckt hattest, wo du doch selbst
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