Im Bann des Highlanders
Zeit, ich gehöre nicht hierher.« Im Geiste sah sie sich bereits an den Wurzeln hinuntersteigen, die sie damals zwar gefühlt hatte, aber als Tritthilfe wegen des verletzten Knöchels nicht nutzen konnte.
»Gott möge dich beschützen.« Màiri umarmte ihre Freundin. »Und nun geh, bevor mich der Trennungsschmerz noch ganz übermannt.«
Mit einem beklommenen Gefühl erwiderte Joan die herzliche Umarmung, dann löste sie sich fast heftig, hob ihren langen Rock etwas an und machte sich an den Abstieg.
Die Schottin kniete sich wieder an den Rand der Grube und verharrte still, während Joan sich hinuntergleiten ließ und ihr Fuß nach einem Halt suchte.
Das Rauschen und Zirpen nahm zu, bei jedem Zentimeter, den Joan in die Tiefe stieg. Auf halber Höhe wurde sie plötzlich von einem unerklärlichen Schwindel erfasst. Dann verlor sie das Bewusstsein ...
SCHOTTLAND 2005
20. Kapitel
Ein merkwürdig metallartiger Geschmack im Mund ließ Joan schließlich wieder zu sich kommen. Es dauerte einige Minuten, bis sie begriff, dass sie sich die Lippe blutig gebissen hatte.
Noch hatte Joan nicht die Augen geöffnet, und erst, als der Geruch nach feuchter, kalter Erde fast übermächtig wurde, realisierte Joan, dass sie sich in Ceanas Grab befand; allmählich kam die Erinnerung an die letzten Minuten zurück – oder waren seitdem Stunden, vielleicht sogar Tage vergangen?
»Màiri?«, rief Joan halblaut, ihre Stimme hörte sich dumpf und tonlos an. Sie blickte nach oben, durch den Spalt im morschen Holz war trübes Tageslicht zu erkennen. Angestrengt versuchte sie, etwas zu erkennen, das nach einer menschlichen Gestalt aussah, aber niemand beugte sich über den Rand der Grube.
Langsam erhob sich Joan, bevor sie im Dämmerlicht versuchte, die Gebeine ihrer Urahne auszumachen – doch sie waren verschwunden. Ein Schauer überlief Joan. War sie schon am Ende ihrer Rückreise? War die Zeitreise beendet? War sie am Ziel oder war sie möglicherweise in einem viel weiter entfernten Zeitalter gelandet, in einem noch früheren, einem noch späteren oder doch in ihrem eigenen? An welchem Tag würde sie zurückkehren, zu welcher Stunde?
Sie presste ihr trotz der Kälte schweißnasses Gesicht an das Schultertuch, wobei ihr der schwache Hauch von Màiris lieblichem Blumengeruch entgegen schlug. Noch einmal rief Joan den Namen ihrer schottischen Freundin, doch ihr Ruf verhallte ungehört. Es schien zumindest eindeutig zu sein, dass die Zeitreise beendet war.
Noch einmal blickte sich Joan in dem ungemütlichen Erdloch um, dann begann sie nach aus der Erde hervorspringenden Wurzeln zu suchen, an denen sie sich dann langsam hochzog. Es war beschwerlicher als der Abstieg und dauerte wesentlich länger.
Nach einer Ewigkeit, wie es Joan schien, hatte sie es geschafft und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung bäuchlings auf den Waldboden fallen. Noch während sie lag, spürte sie, dass es wärmer war. Und als sie den Kopf hob, erkannte sie erstaunt, dass die Bäume in sattem Grün standen, statt in herbstlicher Färbung.
»Mein Gott«, murmelte Joan, »ich bin zurück«, sie erkannte die Umgebung, »aber bin ich etwa ein ganzes Jahr fortgewesen?« Sie sog tief die schwere, feuchte Luft ein – es bestand kein Zweifel, dass sie sich in einer anderen Jahreszeit befand!
Von Panik getrieben stürzte Joan davon. Während ihrer Flucht von der Stätte des Grauens blickte sie sich immer wieder hektisch um, aus Furcht, erneut von Wegelagerern entdeckt zu werden.
Als sie sich wieder einmal ängstlich umsah, stolperte sie plötzlich über einen Gegenstand, von dem sie zunächst annahm, dass es sich um eine unter Laub verborgene Wurzel handelte. Doch dann erkannte Joan, dass es sich um ihre Handtasche handelte, die sie vor der Reise durch die Zeit verloren hatte.
Bevor Joan die Tasche aufnahm, stieß sie sie vorsichtig mit dem Fuß an. Das schwarze Nappaledertäschchen sah nicht aus, als hätte es jahrelang auf dem Waldboden gelegen; es war an der Außenseite lediglich etwas feucht vom Regen.
Langsam sank Joan nieder, griff mit zitternden Händen nach der Tasche und öffnete mit angehaltenem Atem den Verschluss. Unterdrückt schrie sie auf, als sie ihr Handy entdeckte, das ihr im ersten Moment fremd und ungewohnt vorkam. Vorsichtig nahm sie es heraus und überlegte sich, ob sie ihre Mutter anrufen sollte. Sie verwarf den Gedanken sofort, denn sicher war der Akku leer. Sie musste aus dem Wald herausfinden und die Ruine von Glenbharr
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