Im Bann des Maya-Kalenders
zur kleinen Elite der 144.000 auserwählten Rechtgläubigen zu gehören, die nach dem Tod direkt in den Himmel übersiedeln und Teil der göttlichen Regierung, »des neuen System Gottes«, wird, wie es die Bibel verheißt. Berta S. gehört zum »Überrest« jener wenigen Geistgesalbten, die noch leben und noch nicht ins Himmelsreich eingegangen sind.
Auf die Gnade der Geistsalbung kann ihre Urenkelin nicht hoffen, denn das himmlische Boot ist voll, das biblische Kontingent
der 144.000 Gnadenmenschen seit 1931 ausgeschöpft. Immerhin gehört das Mädchen als treue Zeugin Jehovas zu den »anderen Schafen«, die nach der erwarteten Schlacht von Harmagedon direkt ins Paradies wechseln dürfen, das Jesus Christus auf der Erde errichten und persönlich regieren soll. Vorausgesetzt natürlich, dass sie weiterhin tapfer den Predigerdienst versieht, zweimal pro Woche an den Versammlungen im Königreichsaal teilnimmt und die vielen Gebote und vor allem Verbote der WTG befolgt.
Seit über 60 Jahren putzt Berta S. mindestens zweimal wöchentlich die Türklinken oder verteilt ihre Traktätchen auf öffentlichen Plätzen. Woche für Woche wird sie mitleidig belächelt oder kaltschnäuzig an der Haustür abgewiesen. Die Demütigungen nimmt sie stoisch hin, weil sie weiß, dass hinter allen »Dingen des Systems« der Satan am Werk ist. Und: Sich für Gott erniedrigen zu lassen, ist ein Akt biblischer Demut, der im Himmel mit besonderer Befriedigung vermerkt wird, glaubt sie.
Berta S. hat im Lauf ihres Lebens 50.000, vielleicht 100.000 oder noch mehr Traktätchen für die theokratische Organisation verteilt. Auch finanziell engagiert sie sich kräftig. Schließlich ist einer der letzten Stühle an der Seite Gottes für sie reserviert. Monat für Monat zweigt sie bis zu 20 Prozent ihres Einkommens »für Gott« ab.
Ein irdischeres Verhältnis zu Zahlen hat hingegen die international tätige WTG mit den 200.000 Gläubigen in Deutschland und den rund fünf Millionen weltweit, die mit Eifer die beiden vierzehntäglich erscheinenden Traktätchen »Der Wachtturm« und »Erwachet« verteilen. Die »Bibel- und Traktatgesellschaft« ist in erster Linie ein riesiges Verlagsunternehmen, das mit der Endzeitangst der Menschen spielt. Mehr als 1000 Zeugen Jehovas produzieren, drucken und versenden in der modernen Druckerei der WTG in Selters im Taunus Bücher und Traktätchen. In ihrem Buch Die Zeugen Jehovas schreiben Eva-Maria Kaiser und Ulrich Rausch, dass die Mitarbeiter in der Regel weder über
eine Renten- noch eine Arbeitslosen- oder Krankenversicherung verfügten, da ihre Arbeit als religiöse Tätigkeit gewertet werde.
Der Ausstoß von Jehovas Druckerei in Selters ist beträchtlich. Täglich können ein bis zwei Millionen Traktätchen und 50.000 bis 100.000 Bücher gedruckt werden. Jährlich werden in Deutschland fast eine halbe Milliarde »Erwachet« und »Der Wachtturm« für rund 80 Länder produziert. Die WTG veröffentlicht wie praktisch alle Sekten keine Bilanz, doch dürfte sich der Jahresgewinn allein der Druckerei von Selters dank des minimalen Aufwandes auf 100 Millionen Euro belaufen, wie Kaiser und Rausch schätzen.
Die WTG wurde um 1881 mit dem Ziel gegründet, die angeblich bevorstehende Apokalypse zu verkünden. Als erster prophezeite der Gründer der WTG, Charles Tazé Russell (1852–1916), die Endzeit. Der »Prophet« aus dem US-Staat Pennsylvania verkündete, Christus sei 1874 in die Weltsphäre eingetreten, um die Endzeit vorzubereiten. Die Apokalypse sagte Russell für 1881 und später für 1914 voraus. (Russell datierte den Beginn der Menschheitsgeschichte, die gemäß Bibel 6000 Jahre dauern soll, auf das Jahr 4126 v. Chr.)
Hoffnungen und Endzeitängste
Diese Botschaft löste gleichermaßen Hoffnungen wie Endzeitängste aus und erwies sich als wirkungsvolles Missionsinstrument. Bei der Datierung des Weltuntergangs wendete Russell einen Berechnungsmodus an, der sich auf die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier stützt. Russell leitete seine Vorhersage offensichtlich vom Matthäus-Evangelium ab, speziell vom Kapitel 24, Vers 14, in der das Predigen und die Verkündung des Evangeliums in Verbindung mit dem Ende der Welt gebracht werden. Die Zeugen Jehovas nannten sich denn auch bis 1931 Ernste Bibelforscher. Sie waren überzeugt, dass sich
in den biblischen Gleichnissen der Zeitpunkt der Apokalypse verstecke.
Als das ominöse Jahr 1914 ergebnislos verstrich, flüchtete sich das WTG-Management in
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