Im Bann des Mondes
gerade die letzten Knöpfe schloss, sprang aus dem Gefährt und verbeugte sich höflich vor ihrer Schwester. »Lady Archer, es ist mir wie immer ein Vergnügen.«
Miranda schob die Lippen vor. »Das bezweifle ich in diesem Moment doch sehr, Lord Northrup.« Ihr durchdringender Blick, in dem Erstaunen und Skepsis miteinander rangen, richtete sich auf Daisy. Doch dann holte sie tief Luft und ein bekümmerter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Ach, Daisy.«
Sofort zog Daisy sie fest an sich, ohne auf ihren derangierten Zustand zu achten. »Was ist los, Kleines?«
Mirandas Arme umklammerten sie genauso fest. »Winston«, sagte sie an Daisys Haar. »Er ist vom Werwolf angegriffen worden.«
Ian hob sofort aufmerksam den Kopf. »Wo? Wann?«
Miranda richtete sich auf. »Ich weiß es nicht. Er lebt, aber nur gerade so eben. Archer ist bei ihm.« Sie drehte sich wieder zu Daisy um, und ihre Augen schimmerten. Einen Moment lang sah sie wieder wie das kleine Mädchen aus, das Daisy und Poppy immer durchs ganze Haus gefolgt war und spielen wollte. Ihre kleine Schwester, die ihnen so sehr auf die Nerven ging, aber ihnen gleichzeitig so lieb war. »Daisy, ich habe so große Angst um Poppy. Wenn sie Winston verliert …«
In Daisy zog sich alles zusammen. Winston Lane war Poppys Ein und Alles.
30
Die Wahrheit, so schien es, bereitete Schmerzen. Und Winston hatte Schmerzen. Schmerzen am ganzen Körper. Ein brennender, wilder Schmerz, der an der linken Seite seines Gesichts fraß und sich in seinen Arm und sein Bein bohrte.
Beim Versuch zu atmen meinte Winston an seinem eigenen Blut zu ersticken … ein salziger, metallischer Geschmack, der ihn würgen ließ.
»Ganz ruhig, Liebling. Ruhig.« Eine kühle Hand berührte seine.
Fast hätte er geschluchzt. Poppy. Ihre Stimme. Ihre Berührung. Sie war ihm so vertraut, dass er meinte, zu Hause zu sein. Zu Hause. Vielleicht war er das auch. Hier war es warm; nicht feucht und kalt. Er lag auf etwas Weichem, nicht auf dem unebenen Pflaster der dunklen Gasse, wo …
Seine Hand fuhr hoch, und er erinnerte sich wieder an das Wesen, das ihn angegriffen hatte … an die rasiermesserscharfen Krallen, die ihn zerfetzt hatten.
Eine starke, eine feste Hand packte ihn. »Nicht bewegen. So ist es schon schwer genug.«
Wer war das? Seine Gedanken rasten, während er nach der Antwort suchte. Eine dunkle Stimme. Tief. Ein Lügner. Etwas zupfte an seinem Gesicht, zog an seiner Wange. Er erstarrte.
»Win«, sagte Poppy wieder. »Halt still, und lass dich von Archer zusammennähen.«
Archer. Dieser Mistkerl. Seine Haut und sein Hals brannten wie Feuer. Sie waren alle verlogene Mistkerle.
»Sher – Sheridan?« Er musste es wissen.
»Ist bewusstlos geschlagen worden«, ertönte Archers Stimme. Er klang unbeteiligt. »Bis auf eine Beule hat er nichts. Er wird’s überleben.«
Winston bewegte sich. Er wollte von dieser Stimme weg, die ihn mit unerwünschten Erinnerungen verfolgte.
»Himmel, jetzt fängt er schon wieder an. Poppy, wenn Sie sich bitte darum kümmern könnten.«
Poppys Hände legten sich auf seine Schultern. »Win. Ruhig. Bitte.«
Er beruhigte sich, weil sie ihn darum bat und lag regungslos da, während das Zupfen und Zerren an seinem Gesicht weiterging.
Wasser plätscherte in einem Becken, und dann spürte er dessen feuchte Kühle an Hals und Brust.
»Ach, Win.« Poppys Stimme. So sanft. »Win, wir sorgen dafür, dass du wieder in Ordnung kommst. Das werden wir.«
Er versuchte, etwas zu sehen. Langsam wurden die verschwommenen Umrisse eines Kopfes erkennbar, der Heiligenschein aus rotem Haar. Die strengen Brauen hatte sie zusammengezogen. Poppy. Seine griechische Schönheit, so stark und rein. Seine Boudicca, denn an die hatte sie ihn erinnert, als er sie das erste Mal erblickte und befürchtete, es würde ihm nie gelingen, diese wilde Schönheit für sich zu gewinnen, die die Welt mit ihrem durchdringenden Blick in Schach hielt.
Poppy. Seine Frau. Der einzige ehrliche Mensch in seinem Leben. Sie hatte ihn nie belogen. Sie nicht.
Mit zärtlicher Miene beugte sie sich über ihn, doch die Strenge ihrer Gesichtszüge konnte durch nichts je ganz weich werden. »Lieg ruhig, Win«, sagte sie. »Es ist fast vorbei.«
Doch es war erst der Anfang. Der Anker dieses Wissens senkte sich auf seine Brust und zog ihn nach unten. Sein Blick glitt zu dem zarten Goldkettchen, das sie um den Hals trug und dessen Anhänger wie immer gut verborgen unter ihrem Kragen ruhte. Doch er
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