Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
Buch ist«, sagte Sonja zaghaft. »Er sagte, vielleicht steht dadrin, was wir tun müssen.«
Ganz sanft strich Ganna mit dem Finger über den ledernen Einband. »Ja«, antwortete sie mit ganz ferner, fremder Stimme. »Dies ist ein Buch aus Lyecenthe. Aber ich kann es nicht lesen. In unserer Zeit lebt niemand mehr, der das könnte.«
»Dann ist es nutzlos?« Eine Welt aus Enttäuschung und Ärger lag in Melanies Stimme, und Sonja fühlte sich ähnlich. »Aber Ben hat doch gesagt –«
»Vielleicht hat er sogar recht. Die Beobachter haben fast immer recht mit dem, was sie sagen oder tun.« Ganna seufzte. »Aber ich kenne die alten Schriftzeichen nicht. Ohne die Enat sind uns die Hände gebunden, und die Enat sind schon lange tot.«
»Was hätten wir denn mit den Enat zu schaffen?«, fragte Marus mit gerunzelter Stirn. »Sie waren verflucht, ein vom Glauben abgefallenes Volk –«
»Ich glaube, dass sie verzweifelt waren, Marus. So wie wir heute. Sie haben getan, was sie glaubten, tun zu müssen.«
»Wer waren denn die Enat?«, fragte Melanie. »Und was haben sie getan?«
G anna zögerte. »Sie lebten in Chisiro, oben im Norden. Sie entwickelten die Schrift und sandten Gelehrte nach Lyecenthe. Sie waren auch die Ersten, die gegen die Dämonen kämpften, aber sie verloren den Kampf. Um zu überleben, willigten sie in ein Bündnis mit den Nebelkönigen ein. Aber dieses Bündnis erwies sich als Fluch. Einer nach dem anderen starben sie, und Aruna verweigerte ihnen den Platz im Licht. So verwandelten sie sich in Schatten – Erinnerungen, die durch das Land streiften und nirgends Ruhe fanden. Sie sind das verlorene Volk.«
Ein eisiger Schauer kroch über Sonjas Rücken. »Schatten?«, wisperte sie.
Ganna nickte. »Aber das ist viele Jahrhunderte her. Ich glaube nicht, dass es heute noch irgendwo in Parva Schatten der Enat gibt.«
Ganz leise sagte Sonja: »Aber wenn Schatten sterben, verwandeln sie sich in Licht.« Sie blickte auf. »Ganna, was ist ein Schattenjäger?«
Unruhe kam auf. Ganna schaute Sonja scharf an. »Das ist nur eine sehr alte Legende. Wo hast du das Wort gehört?«
Sonja zögerte. »Haelfas –«
Da heulte draußen ein Wolf.
»Es ist so weit«, sagte Ganna und erhob sich. »Machen wir uns auf den Weg. Wir reden später, Sonja.«
Jetzt ging alles sehr schnell. Als die Letzten das Zelt verließen, zogen drei junge Frauen die Stützen weg, und es sank in sich zusammen. Alle anderen Zelte waren schon zu dicken Packen zusammengerollt und auf Schlitten gebunden worden, die von Sirinkim gezogen wurden. Es gab nur sehr wenige Ponys und überhaupt keine Birjaks, und als Sonja sich umschaute, sah sie, wie dünn und knochig die Elarim waren. Die dunklen Fellkleider schlotterten ih n en wie Säcke um den Körper. Kinder gab es überhaupt nicht.
Sie drehte sich zu Lorin um. »Wo sind denn eure Kinder?«
»In Sicherheit«, antwortete er. »Zumindest hoffen wir das. Wir haben sie weit fort geschickt – in die Stadt des Kleinen Volkes tief in den Bergen. Hier sind nur noch die, die kämpfen können.«
»Und die Birjaks?«
Er seufzte. »Wir haben sie verloren. Beim letzten Kampf geriet die Herde in Panik und rannte weg. Und wir rannten in die andere Richtung – mit den Soldaten des Spürers auf den Fersen. Wir haben uns nur hierher retten können, weil die Tesca uns zu Hilfe gekommen sind.«
»Und was habt ihr zu essen?«
»Reste. Ein paar Vorräte vom letzten Sommer. Und die Tesca helfen uns bei der Jagd. Aber selbst sie finden nicht mehr viel.« Er schaute sie an. »Du bist auch zu dünn. Und du … hast dich verändert.« Instinktiv guckte Sonja an sich herunter, und Lorin lachte leise. »Nein, nicht da.« Er wurde wieder ernst. »Es ist in deinen Augen. Du hast etwas gesehen –«
»Sonja!«, rief Melanie, die schon auf Beyashs Rücken saß. »Lorin! Kommt schon!«
Leise und schnell sagte Sonja: »Reite mit mir auf Nachtfrost, ja? Ich muss mit dir reden.«
Seine Augen leuchteten auf. »Sonja, ich –«
»Nun kommt schon!«, rief Elri und verwandelte sich in eine magere schwarze Wölfin, die um Nachtfrost und Beyash herumsprang. Der Rotfuchs schnaubte und tänzelte auf der Stelle, das schwarze Einhorn stand gelassen wie ein Fels.
Hastig liefen sie zu Nachtfrost hin. Sonja schwang sich h och und streckte Lorin die Hand hin. Aber er ergriff sie nicht sofort. Höflich sagte er zu Nachtfrost: »Sonja hat mich eingeladen, auf deinem Rücken zu reiten, Taithar. Bist du einverstanden?«
Nachtfrosts
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