Im Bann des Omphalos
Bruder?«
»Unvermeidlich, Schwester. Anpassung ist erforderlich.«
»Bei einem so seltenen Stück?«
»Wir haben keine Wahl.«
»Stimmt, Bruder, aber mit größter Behutsamkeit. Ich werde mich darum kümmern.«
»Du, Schwester?«
»Es ist meine Figur.«
»Das steht noch nicht fest.«
Ungeduldig bewegte sich Carodyne. Grimm stieg in ihm auf. Er war ein Mensch, kein lebloser Gegenstand, mit dem man nach Belieben verfahren durfte. Er spürte, daß es um ihn ging.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte er. »Aber wenn Sie Meinungsverschiedenheiten haben, dann tragen Sie sie doch auf ganz einfache Weise aus. Nehmen Sie eine Münze.«
Die Frau lächelte. »Haben Sie eine?«
Er brachte ein Dekal zum Vorschein. Auf einer Seite befand sich das Bild einer Schlange, auf der anderen das eines Eies. »Die Schlange ist männlich, das Ei weiblich, einverstanden?«
»Werfen Sie sie«, forderte der Mann ihn auf. Er schien sich zu amüsieren. Als die Münze auf dem Boden landete, blickte er darauf. »Du hast gewonnen, Schwester. Wollen wir weitermachen?«
»Einen Augenblick. Die Regeln?«
»Wie immer. Er bleibt am Leben oder stirbt.«
»Nicht mehr?« Sie hielt nachdenklich inne. »Wir sollten ein paar für alle Beteiligten interessante Raffinessen hinzufügen. Ich schlage vor …«
»Warten Sie!« Carodyne blickte sie an, dann das Brett und die aufgestellten Figuren. »Ich verlange zu wissen, was Sie vorhaben, was das hier ist. Ich bin ein Mensch, keine leblose Spielfigur. Ich gehöre überhaupt nicht hierher.«
»Das ist von keiner Bedeutung. Schwester?«
»Ein Siegespreis«, sagte sie. »Eine Belohnung. Mark, was ist Ihr größter Wunsch?«
»Frei zu sein.«
»Dann finden Sie sich – wenn es Ihnen gelingt, sind Sie frei. Deine Eröffnung, Bruder.«
Die Gestalten wurden vage, die Menschenähnlichkeit schwand, löste sich zu verschwommenem Licht auf. Etwas wie eine Hand griff hinunter auf das Brett. Eine Spielfigur wurde hochgehoben und anderswo abgesetzt.
Und für Carodyne veränderte sich die Welt.
6.
Er saß auf einem Pferd und ritt durch einen Schneesturm. Die Kleidung war ungewöhnlich für ihn: er trug eine Brigantine, die ihn vom Hals bis zu den Schenkeln schützte, dicke Handschuhe, hohe Stiefel, ein ledernes Beinkleid, einen Helm, einen breiten Gürtel, von dem ein Schwert und ein Dolch, beides in ihren Scheiden, hingen, dazu einen Umhang mit hochgeschlagenem Kragen. Ein bewaffneter, gerüsteter Reiter allein im Blizzard.
Carodyne stellte nichts, was er sah, in Frage. Das Pferd war echt, genau wie der Wind, der Schnee, der Wald, links und rechts von ihm. Und er war wirklich. Er spürte die lähmende Kälte, den Sattel zwischen seinen Schenkeln, das Gewicht seines Umhangs. Er war ein Mann, der einen langen, schweren Ritt hinter sich und sich hoffnungslos verirrt hatte.
Verirrt? Versetzt wohl schon eher. Er entsann sich des Schiffes, der Finsternis, als das Omphalos ihn verschlang, der merkwürdigen Ebene und der Lichtformen. Irgendwie mußte er in seinem Wahnsinn gelandet und herumgeirrt sein, bis er den Ort erreicht hatte, wo sie ihr Spiel austrugen. Und dann?
Dann machten sie ihn zur Spielfigur, manipulierten ihn, kleideten ihn, setzten ihn auf ein Pferd und auf eine Bühne wie einen Schauspieler. Aber was war seine Rolle? Er mußte sich finden, hatte die Frau gesagt, sich selbst finden, dann würde er frei sein.
Später würde er in Ruhe darüber nachdenken.
Das Pferd stolperte und zitterte ein wenig, als er sich vorbeugte. Er strich ihm beruhigend über den Hals und spürte die kräftigen Muskeln. Vor Jahren hatte er reiten gelernt und mit alten Waffen umzugehen, das würde ihm jetzt vielleicht von Nutzen sein.
Wohin führte dieser Weg? Der Schnee häufte sich auf seinen Schultern, zerrte an seinem Umhang und ballte sich auf dem Helm. Der Schnee war unvorstellbar dicht und wirkte gespenstisch in dem sterbenden Tageslicht. Er drückte die Äste der Bäume herab und verlieh ihnen eine neue Form.
Er hörte das Heulen durch den peitschenden Wind, und die Antwort darauf irgendwo vor ihm. Das Pferd schnaubte verängstigt.
»Ruhig!« Wieder streichelte er den Hengst, während die Linke den Zügel fest in der Hand hielt. Der Sturm hatte die Wölfe aus ihren Löchern getrieben. Sie mußten Pferd und Reiter gewittert haben und wagten sich in ihrem Hunger heran.
Mark blinzelte und verfluchte den Schnee, der ihm die Sicht raubte. Die Nacht war nah, bald würde es dunkel sein. Wenn
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