Im Bann des Omphalos
Gegenseitigkeit. Das Gehirn ist imstande, seine eigene Wirklichkeit zu machen, nur die Naturgesetze halten es in seinen Schranken. Doch im Omphalos gab es keine Naturgesetze.
Carodyne schrie gellend, als er in Feuer gebadet, von Säuren verätzt und von ungeheuren Kräften geschüttelt wurde. Trugbilder verdrängten die festen Konturen des Cockpits. Verzerrte Gesichter mit geifernden Mündern starrten ihn an und wandelten sich zu immer neuen Ausgeburten der Hölle. Die Welt breitete sich aus, wurde zu Gaswolken, gigantischen Kristallen, endlosen Ebenen mit huschenden Schwaden in Weiß, Rot und Grün. Er stürzte durch Wälder aus Gebeinen, tauchte in schleimige Gewässer, versank im Treibsand. Sein auf diese ungewöhnlichen Energien reagierender Geist erschuf ständig neue Phantasiebilder, in dem Bemühen, diesen Ansturm von Reizen zu einem vernünftigen Muster zusammenzufügen.
Verzweifelt versuchte er seine Gedanken zu lenken und sich an den Bruchteil von etwas festzuklammern, das er für die Wirklichkeit hielt. Ich bin Mark Carodyne und sitze in einem Schiff, das das Omphalos eingefangen hat. Aber das war zu viel. Alles konnte er nicht behalten: Mark Carodyne in einem Schiff … Mark Carodyne. Carodyne … Carodyne … Carodyne …
Sein Name, seine Identität, waren das einzige, dessen er sich jetzt noch sicher sein konnte. Das Omphalos war nur noch ein Wort, das Schiff ein Phantasiegebilde – ein Fragment aus einem kürzlichen Alptraum, doch immer noch klammerte er sich hartnäckig daran, entsann sich des schwarzen Kleckses, des scheußlichen Augenblicks, da ihm bewußt geworden war, daß er sich ein wenig zu nahe herangewagt, ein bißchen zu viel riskiert und verloren hatte.
Kein Wunder, daß der zweite Telepath auf dem Monitorschiff wahnsinnig geworden, daß die Verbindung mitten im Wort abgerissen war. Und das Funkgerät und die anderen Instrumente? Welche Instrumente? Es gab sie hier nicht, genausowenig wie sein Schiff existierte. Nichts war wirklich, abgesehen von seinem Namen, seinem Ich, seinem Selbst, das sich weigerte nachzugeben.
Ich bin tot, dachte er, aufgelöst, in einer Atomwolke verstreut, um die flammenden Farben noch greller zu machen. Ich habe eine Million Augen und kann in alle Richtungen sehen. Ich bin allmächtig, bin ewig.
Aber auch das gehörte zu der Selbsttäuschung.
Carodyne, dachte er. Ein Mensch. In einem Schiff – was ist ein Schiff? Im Omphalos – was ist das Omphalos? Carodyne – ein Mensch. Carodyne. Carodyne.
Alte Feinde kamen, und er schoß sie ab. Der Hang fiel vor ihm ab, wie ein Vogel flog er ihn hinab. Eine Frau griff nach ihm, er spürte die Wärme weicher Arme, den Druck eines sanften Körpers. Er veränderte sich. Alles veränderte sich. Seltsame Gestalten tanzten auf vielgelenkigen Beinen vorüber. Pyramiden ragten in einen gelben Himmel. Rubinkugeln zerschellten und gaben pulsierende Klumpen leuchtender Gallerte frei. Er rannte über ein endloses Seil. Er wurde befummelt, geknutscht, gestreichelt, mit Parfüm übergossen und in Schmutz gewälzt. In seinen Ohren hallten Glocken, Gongs und viele Musikinstrumente in grauenvoller Disharmonie wider. Sein Gesichtssinn, Geschmack, Geruch, Gefühl vermischten sich zu einem wirren Durcheinander. Wahnsinn. Es gab nur einen Ausweg.
In der Finsternis vernahm er Stimmen.
»Ungewöhnlich, Schwester, findest du nicht?«
»Wahrhaftig, mein Bruder.«
»Hart, eigensinnig, gerade richtig für unser Spiel.«
»Meine Figur, Bruder.«
»Du ziehst zu schnell. Wir wollen den Augenblick genießen, und dann gehen wir vielleicht einen Kompromiß ein. Eine solche Entschlossenheit muß gewürdigt werden.«
»Sie ist so selten, so unsagbar selten.«
»Sie muß mit Vorsicht behandelt werden. Eine einmalige Chance, deren man sich mit Scharfsinn und Einsicht bedienen muß. Sie ist mein, glaube ich.«
»Mein, Bruder.«
»Du bist hart, Schwester.«
»Und entschlossen.«
Carodyne bewegte sich und öffnete die Augen. Er hatte nicht geschlafen, war auch nicht im wirklichen Sinn des Wortes bewußtlos gewesen. Sein Gehirn hatte sich vor der tosenden Flut von Reizen geschützt, indem es sich hinter einem Schild verbarg, wie die Augen bei greller Sonne hinter den Lidern – als Zuflucht vor dem Wahnsinn.
Was er jetzt sah, war nach all seiner bisherigen Erfahrung unmöglich. Er stand auf einer sanfthügeligen Ebene mit treibenden Wolkenbänken unter einem Regenbogen-Himmel. In der Luft hingen geometrische Formen, die sich langsam drehten
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