Im Bann des roten Mondes
und er gehört zu dem Bild, das ich von dir kenne.« Mit einer schnellen Handbewegung löschte er die Schrift im Sand wieder aus, glättete den Boden und begann erneut zu schreiben. Zunächst setzte er ein Kreuz, dann das umgekehrte V, ein leeres Viereck, danach eine seltsame waagerechte Doppelklammer und zum Schluss wieder ein Kreuz.
Désirée tippte auf das V. »Das ist ein D. Und dieses Viereck ein R.«
»Richtig. Dieses Kreuz bedeutet ein T und dieses Zeichen ein F.
»Tdrft – das kann ja kein Mensch aussprechen«, lachte sie.
»Tadarfit«, korrigierte er sie. »Du musst die Vokale einfügen.«
Sie zog die Stirn in Falten und überlegte. »Eigenartig. Bei den ägyptischen Hieroglyphen ist es ähnlich. Sie kannten keine Zeichen für Vokale, und doch muss es sie gegeben haben. Auch die Schreibrichtung war ähnlich unterschiedlich. Deshalb ist die Entschlüsselung der Grabinschriften so schwierig.«
»Um die Schreibrichtung zu erkennen, setzt man die Worte ›hier ich‹ voran. Also: ›hier ich, Arkani‹ oder ›hier ich, Désirée‹ ...«
Sie schaute auf. » Tadarfit , was bedeutet das?«
»Es bedeutet ›Freiheit‹.«
Sie senkte die Augen und schwieg. Es schien wie ein heiliger Augenblick, den sie nicht zerstören wollte.
Sie spürte Arkanis Blick auf sich, und an seinen Augen sah sie, dass er lächelte.
»Woher kannst du eigentlich so gut Französisch?«, brach sie das Schweigen.
»Von einem amessakoul . Ein reisender Mann, der mit so einem komischen Gerät die Welt vermessen wollte.«
»Ein Franzose?«
»Ja, er stammte aus einer kleinen Stadt in Frankreich und arbeitete für die Regierung. Er sollte das Land messen.« Er schüttelte lachend den Kopf. »So einen Unsinn habe ich überhaupt noch nicht gehört. Er kam in unser Lager, als ihm sein Esel starb. Dann hat er eine Weile bei uns gelebt. Er war sehr freundlich und hat mir vieles erzählt. Über Frankreich und seine grünen Wälder, die Flüsse und den roten Wein, über die Eisenbahn und ihre Piste aus Holz und Eisen, wie sein Gerät funktioniert, um die Erde zu messen. So habe ich Französisch gelernt.«
»Und wo ist dieser Mann jetzt?«
»Tot. Wir schenkten ihm zwei Kamele, weil er unbedingt seinen Auftrag weiter erfüllen musste. Und dann zog er davon. Später haben wir ihn gefunden. Die Kamele waren verdurstet und er an einem Fieber gestorben. Wir begruben ihn nach der christlichen Sitte, wie er sie uns geschildert hatte.«
»Die Wüste kennt so viele traurige Geschichten«, stellte sie bedauernd fest. »Ich möchte so gern eine fröhliche Geschichte hören.«
»Ich werde dir eine Liebesgeschichte erzählen«, sagte Arkani und streckte sich im Sand aus, während er sich auf einen Ellenbogen stützte. Er schaute zum rosafarbenen Abendhimmel, als suchte er dort die Worte. »Einmal lebten zwei stattliche Brüder, die zu den besten Kriegern ihres Stammes gehörten. Ihre Frauen gebaren gleichzeitig ein Kind, die eine einen Jungen, den sie Ouanes nannten, die andere ein Mädchen, das Tanes hieß. Eines Tages verließen die Männer das Lager, um an einem Rezzou gegen einen Nachbarstamm teilzunehmen. Sie kehrten nicht wieder zurück. Die Witwen zogen die beiden Kinder gemeinsam auf. Als sie erwachsen waren, verliebten sie sich ineinander.
Tanes war wunderschön, und viele Männer hielten um ihre Hand an. Eines Tages verlangte der Stamm der Mutter, sie solle einen Mann aus ihrem Stamm heiraten. Weil die Mutter wusste, dass Tanes Ouanes liebte, verweigerte sie das Ansinnen. Der Anführer von Tanes Stamm war so erzürnt über die Zurückweisung, dass er das Mädchen überfiel, als es mit ihren Kamelen am Brunnen weilte. Er nutzte aus, dass Ouanes seine Kamele woanders hingetrieben hatte.
Tanes wurde mit festen Stricken um die Handgelenke an die Schwänze zweier Kamele gefesselt. Dann trieben sie die Tiere in verschiedene Richtungen auseinander. Der Körper des jungen Mädchens sollte zerreißen.
Aber Tanes dachte nur an ihre starke Liebe zu Ouanes. Und es geschah ein Wunder. Sosehr die Kamele auch angetrieben wurden, sie konnten sich nicht von der Stelle bewegen. Die Kraft des Mädchens hielt sie zurück. Da ließ man Tanes frei, und sie heiratete Ouanes. Die Liebe ist stärker als der Tod.«
Sie lauschten beide in das Schweigen hinein.
»Das war keine fröhliche Geschichte. Es war sogar eine grausame Geschichte«, sagte Désirée.
»Ich sagte, dass ich dir eine Liebesgeschichte erzähle. Liebe ist oft grausam, aber sie ist auch
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