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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ich sagen soll. Es tut mir so Leid.« Ein Jahr Aufschub, ein Todesurteil. Und niemand kann ihn retten. Hier geht es nicht um ein brennendes Auto, ein Erdbeben, eine Überdosis. Hier geht es nicht um eine Katastrophe, deren Folgen sich eindämmen lassen.
    Er rückt näher, so nahe, dass ich die Hitze auf meinem bloßen Arm spüre, den Druck seines Beines an meinem. Wir stehen Seite an Seite, schweigen, als der Himmel seine Schleusen öffnet. Es ist kein leichter Schauer wie in New York City, der im Vergleich dazu lachhaft ist. Der Regen ist hier genauso wie in Alabama während des Sommers: Es beginnt mit einem Wolkenbruch. Und endet genauso.

6
    Ich ertappe mich dabei, dass ich immer wieder an Amanda Ruth denke, an die Sommer am Demopolis River und das kleine Blockhaus ihrer Eltern in Greenbrook mit dem schmalen Pfad, der zum Fluss hinunterführte. Nach mittags pflegten Amanda Ruth und ich auf den Landungs steg hinauszugehen, der so heftig unter uns schwankte, dass wir fürchteten, er könne zusammenbrechen und uns in das schlammige Wasser hinabstürzen, wo dünne Schlan gen ihre glänzenden harmlosen Leiber um die mit Rankenfußkrebsen bewachsenen Stelzen wanden. Am Ende des Landungsstegs befand sich das Bootshaus mit seiner von der Sonne ausgebleichten Tür. Sie schob einen Finger unter den rostigen Schnapper, löste ihn mit viel Geduld aus der Öse und schwang die Tür auf. Als das Licht hineinflutete, flüchteten dutzende von Kakerlaken in die Ecken.
    Das Bootshaus hatte nur zwei Räume. Unser Raum war der am weitesten von der Tür entfernte, der blaue Raum. Er hatte keinen Fußboden, nur das Wasser, das gegen drei Holzwände schwappte, und an der hinteren Seite einen Vorhang aus blauem Segeltuch. Bei Ebbe sah man den dünnen Film, der an den Wänden zurückgeblie ben war, eine schleimige grüne Linie, die den Wasserstand mar kierte. In unserem Raum war das Boot vertäut, das wie ein riesiges Fiberglas-Spielzeug an der Wasseroberfläche auf und ab hüpfte. Amanda Ruth stieg stets als Erste hinein, dann reichte sie mir die Hand, wenn ich vorsichtig über die Reling kletterte. Wir stiegen in die Kajüte hinunter und legten uns auf die schmalen Vinylsitze. Wir schlos sen die Augen, lauschten dem Geräusch des Bootes, das gegen die Holzwände stieß; die Stelzen des Bootshauses knarrten unter uns und gelegentlich hörten wir das Summen vorbeiflitzender Jet-Skis oder die Stimmen von Jugendlichen, die sich in Schlauchbooten flussabwärts treiben ließen. Dort, in unserer geheimen Zufluchtsstätte, erzählte mir Amanda Ruth Geschichten aus dem Leben ihrer Großeltern in China und von ihrem Vater, der als Junge nach San Francisco ausgewandert war. Die Geschichten waren frei erfunden, eine facettenreiche Biografie als Ersatz für die echte, die ihr Vater sich zu enthüllen weigerte. »Ich gehöre also zur ersten Generation, wie du siehst«, pflegte sie zu sagen.
    »Die erste Generation von was?«
    »Von waschechten Amerikanern, du Schlafmütze. Mein Dad sagt, dass er mich eines Tages nach China mitnehmen wird, in das Dorf, in dem meine Vorfahren lebten.«
    Das war reines Wunschdenken. Wir wussten beide, dass Mr. Lee nie und nimmer mit ihr dorthin reisen würde. China war Amanda Ruths heimliche Liebe, nicht die ihres Vaters.
    Die Tür vom Landungssteg führte in den Grillraum, in dem ein kleiner Metalltisch und zwei Holzstühle standen sowie ein Grill auf Rädern, dessen Haube immer geöffnet war und einen zu Staub zerfallenen Holzkohlestoß enthüllte. In einer Ecke lag, neben einer Kühltruhe, eine alte Matratze. Ein kleines Fenster bot einen Ausblick auf den Fluss. Es war im Grillraum, wo Mr. Lees Zorn im zweiten Highschool-Jahr über uns kam: Amanda Ruth lag auf dem Rücken, der kurze Sommerrock hoch über die Knie geschoben, der nackte Bauch glänzend vom Schweiß. Wir hatten das Transistorradio eingeschaltet, irgendeine herzzerreißende Melodie von Ella Fitzgerald, so dass wir die Gummisohlen seiner Bootsschuhe, die über den Landungssteg stapften, nicht hörten. Ich erinnere mich, dass sich ein Lichtstrahl in den Raum ergoss, als er die Tür öffnete, und Amanda Ruths Beine plötzlich zu glühen schienen; für den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich ihn sah, dachte ich, es handle sich um eine übersinnliche Erscheinung, eine wundersame Verwandlung, ausgelöst durch meine Berührung. Amanda Ruth stockte der Atem, sie fuhr mit einem Ruck hoch und zupfte an ihrem Rock, doch dann kreuzte Mr. Lees Schatten das Sonnenlicht

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