Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
und ich wusste, dass wir in der Falle saßen. Seine Hand sauste mit voller Wucht auf das Transistorradio herab, die Musik verstummte und wortlos stieß er den Grill um, so dass er Amanda Ruth an der Schulter traf. Holzkohlenstaub wirbelte hoch, trübte unsere Sicht und genauso schnell, wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Asche und verkohlte Garnelenreste setzten sich in unseren Haaren, auf unseren Zungen fest.
Amanda Ruth weinte, sie hatte sich eine Platzwunde an der Schulter zugezogen, die blutete. »Lass uns gehen«, sagte ich. »Wir können zu mir.« Doch Mobile war eine halbe Stunde entfernt und abgesehen davon besaßen wir beide noch keinen Führerschein.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich Amanda Ruth wieder gefasst hatte: sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, trocknete ihre Augen und erklärte sachlich: »Wir warten, bis er wegfährt, dann gehen wir hoch, ins Haus. Mom wird mit ihm reden und ihn besänftigen.«
»Was ist, wenn er zurückkommt?«
»Macht er bestimmt nicht.«
»Denkst du, dass er meine Eltern anruft?«
»Nein. Das wäre ihm viel zu peinlich.«
Wir kauerten schweigend in dem Raum, in dem er uns zurückgelassen hatte, mit einem Mal verunsichert, wie wir miteinander umgehen, wie wir uns verhalten sollten. Die Sonne brannte auf das Bootshaus herab. Wir hatten Durst, wagten jedoch nicht, ins Haus hinaufzugehen, um Wasser zu holen. Den ganzen Tag saßen wir reglos da, horchten auf seine Schritte, die nicht kamen. Am Abend, als es kühler wurde und ein leichter Wind die Oberfläche des Wassers riffelte, schliefen wir ein, vor Langeweile und Erschöpfung gleichermaßen. Mitten in der Nacht hörten wir endlich, wie sein Wagen in der Einfahrt ansprang.
* * *
Am nächsten Tag erteilte Mr. Lee Amanda Ruth verschärften Arrest – Fernsehen, Musik, Wochenendausflüge mit Freunden und sonstige Vergnügungen waren gestrichen – und untersagte ihr den Umgang mit mir. Wir sahen uns nur noch in der Schule und in der Mittagspause, wenn wir mit Klassenkameraden unter der Eiche neben dem Naturwissenschaftsgebäude aßen. Sie musste nach der siebten Stunde sofort nach Hause und die einzigen Aktivitäten, an denen er ihr teilzunehmen gestattete, waren Veranstaltungen für die Jugendgruppe in der Kirche, der ihre Familie angehörte. Zwei Jahre lang schickte er sie während der Sommerferien nach North Carolina, in ein teures Ferienlager in den Blue Ridge Mountains, wo am Lagerfeuer religiöse Lieder gesungen wurden, Ausritte stattfanden und die Teilnahme an den »bunten Abenden« mit den jungen Burschen aus dem benachbarten Ferienlager zwingend vorgeschrieben war. Bei diesen bunten Abenden durfte nicht getanzt werden. Sie begnügten sich damit, Scrabble zu spie len, mit Baseball-Schlaghölzern auf unzerbrechliche pinata - Tontöpfe einzudreschen, sich mit Chips und Miniaturbrezeln voll zu stopfen und Cola zu trinken, nicht aus Dosen, sondern aus Flaschen. »Wie in den fünfziger Jahren«, schrieb sie in einem ihrer Briefe aus dem Ferienlager. »Jeden Moment rechnet man damit, dass Richie Cunningham hereinspaziert und die Musikbox anschmeißt.«
Im Sommer nach Beginn unseres letzten Schuljahres änderte sich die Situation. Mr. Lee hatte Probleme mit seiner Druckerei, das Geschäft ging schlecht. Er konnte es sich nicht mehr leisten, Amanda Ruth ins Ferienlager zu schicken, und hatte keine Zeit, sie selbst wie ein Zerberus zu bewachen, eine Aufgabe, mit der er Mrs. Lee betraute, die es insgeheim ablehnte, die strikten Regeln ihres Mannes durchzusetzen. In jenem Sommer verbrachte ich viel Zeit mit Amanda Ruth am Demopolis River. Ihr Vater hielt sich während der Woche im Haus der Familie in Mobile auf und kam nur an den Wochenenden zum Fluss. Am Freitagmorgen durchsuchten wir die Hütte nach verräterischen Anzeichen meiner Anwesenheit: meine Sandalen in Größe 3 7 , Kleidungsstücke in der Wäsche, Haare in den Zinken ihrer Haarbürste. Amanda Ruths Mutter wurde zu unserer Verbündeten und beteiligte sich an den wöchentlichen Fahndungsaktionen, um jede Spur von mir auszulöschen.
Im Wald, ein paar hundert Meter vom Blockhaus am Fluss entfernt, gab es einen Tümpel unter den Weiden, an dem Amanda Ruth und ich uns aufhielten, wenn der Landungssteg zu heiß wurde. Kaulquappen bildeten dichte Trauben an den seichten Stellen, ihre winzigen Körper schimmerten blau in den Lachen aus Sonnenlicht. Aus der Entfernung hätte man den Wirbel, den sie an der Wasseroberfläche
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