Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
dem, was auf mich zukommt, nicht alleine stellen.«
Er drückt meine Schulter. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, deshalb lege ich stumm meine Arme um seine Taille und halte ihn fest. Es ist ein seltsames Gefühl, einen Mann zu umarmen, der nicht mein Ehemann ist.
»Wenn wir nicht aufpassen, lässt uns das Schiff hier zurück«, sage ich schließlich.
»Das wäre nicht schlecht. Du, ich, Nanjing, ein Hotel für Ausländer mit allem Komfort.«
Ich löse mich von ihm und gehe den Kai entlang. Er folgt mir. »Ich habe dir gerade meine Lebensgeschichte erzählt. Bekomme ich nicht einmal einen Kuss?«
»Ich bin seit zwölf Jahren verheiratet«, sage ich, über die Schulter. »Lass mir Zeit.«
Als ich zurückblicke, hat er seine Hände in die Taschen geschoben und blickt zu Boden, geht langsam, wie ein Mann, der noch keine Lust hat, seinen Bestimmungsort zu erreichen. »Das ist genau das, was ich nicht habe.«
* * *
Als wir wieder in unserer Kabine sind und im Bett liegen, sagt Dave: »Warum hast du mir nie etwas von dem Reitunfall erzählt?«
»Ist mir irgendwie entfallen. Verglichen mit dem, was du jeden Tag bei deiner Arbeit zu Gesicht bekommst, ist das ein Klacks.« Ich denke an Stichwunden, Autounfälle, häusliche Gewalt. Ich denke an die schwelenden Überreste des World Trade Center und an Dave in seiner Ambulanz, der damals, vor drei Jahren, zum Schauplatz des Grauens fuhr, und wie sich mir der Magen umdrehte, als ich im Fernsehen die Live-Übertragung von den einstürzenden Türmen und fliehenden Menschen sah, die Gesichter, Kleider und Haare von einer surrealistisch anmutenden rosa-grauen Asche bedeckt. Als ich damals rastlos in unserer Wohnung hin und her lief, um Daves Leben fürchtete und verzweifelt auf das Läuten des Telefons wartete, liebte ich ihn mehr denn je. Ich gelobte Gott, meine Ehe zu kitten, meinen Mann bis zum Ende meines Lebens zu lieben und den Treueschwur zu erneuern, wenn er mir Dave unversehrt zurückbrächte. Das Versprechen bewährte sich über mehrere Monate. Doch am Ende schlich sich wieder das alte Unbehagen ein, die Streitereien wegen jeder Kleinigkeit und wir taten uns beide schwer, die Anwesenheit des anderen in der gemeinsamen Wohnung zu ertragen. Wir gaben uns Mühe, doch wir schafften es nicht, unsere Unzufriedenheit zu verbergen.
»In Manhattan habe ich noch nie einen Reitunfall zu Gesicht bekommen«, sagt Dave lachend. »Eine Katastrophe hoch zu Ross wäre eine neue interessante Herausforderung.« Er rollt zu mir herüber und küsst mich auf die Wange. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Der Kuss ist platonisch, aber ein Kuss ohne Frage – die netteste Geste sein Monaten. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass wir uns stillschweigend auf einen Waffenstillstand verständigt haben.
Und dann setzt er sich abrupt im Bett auf. »Du weißt doch, dass ich nur versuche, Stacy zu helfen.«
»Ja.«
»Gut.« Er legt sich wieder hin. Wenige Augenblicke später ist er eingeschlafen. Ich betrachte ihn im schummrigen Licht, die klaren Linien seines Gesichts, die Haare, die weich über seine Stirn fallen. Das Schiff schaukelt sanft. Heute ist Red-Bingo-Abend und ich höre das leise Murmeln der Passagiere, die oben an der Veranstaltung teilnehmen. Ich stelle mir Graham in seiner Kabine vor, die unserer vermutlich aufs Haar gleicht, mit Ausnahme eines kleinen Unterschieds im Farbschema. Ich stelle ihn mir im Bett vor, auf die Seite gedreht, den Arm um ein Kopfkissen geschlungen. Ich frage mich, ob er im Bett Socken trägt. Ich frage mich, ob er duscht, bevor er sich zur Ruhe begibt. Schläft er in seiner Unterwäsche? Spricht er im Schlaf? Dann fällt mir ein, dass er gesagt hat, er leide unter Schlaflosigkeit, und ich ändere das Bild: Er blickt aus dem Bullauge, auf den blass-orangefarbenen Mond. Ich stelle mir vor, wie seine Hand unter die Bettdecke gleitet, sich findet, sich in einem einsamen Rhythmus bewegt. Sein Mund öffnet sich. Ein kaum hörbares Stöhnen dringt über seine Lippen.
Dave schnarcht leise. Das Schiff bewegt sich sacht hin und her, eine riesige Wiege, die durch die Nacht schaukelt.
8
Nachts nimmt der Fluss eine silberne Färbung an, die Berge spiegeln sich schimmernd im Wasser, die Luft ist kühl und feucht. Das ist das China, nach dem sich Amanda Ruth immer gesehnt hatte, ihre mondhelle Landschaft, das Reich der Drachen. Die Dörfer, die wir passieren, wirken wie verzaubert in der Dunkelheit, herausgeputzt und pulsierend, während sie tagsüber
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