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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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eingeschlafen.
    Während ich ihn betrachte, spüre ich eine Veränderung in mir, eine innere Verwandlung. Ich fühle mich mit einem Mal älter und weiser, scharfsinniger und klarer. Ich ziehe im Dunkeln mein Nachthemd wieder aus, streife ein lose geschnittenes Kleid über meine Schultern und befestige im Dunkeln die Riemchen meiner Sandalen. Ich spüre ein Prickeln an allen Stellen, die meine Finger berühren, selbst in den Füßen, als meine Hand sie streift. Als ich die winzigen Knöpfe an der Vorderseite des Kleides schließe, werden meine Brustwarzen hart. Der Gedanke an Sex beherrscht all meine Sinne.
    Ich finde Graham an Deck. Er steht an der Reling, wartet auf mich.
    »Du bist gekommen«, sagt er.
    »Ja.«
    »Das überrascht mich.«
    »Warum?«
    »Ich dachte, dass nach reiflicher Überlegung die Vernunft siegen würde.«
    Er hat mich noch kein einziges Mal geküsst. Doch der Art, wie er neben mir steht, wie sich unsere Ellenbogen auf der Reling berühren oder sich unsere Oberarme manchmal aneinander schmiegen, wenn wir sitzen, wohnt etwas sehr Intimes inne, als hätten wir uns schon hundertmal geliebt. Ich rücke unnötigerweise hin und her, um die Lücke zwischen uns zu schließen, streiche meine Haare aus dem Gesicht, damit meine Hand beim Senken des Arms der seinen näher ist.
    »Deine Freundin«, sagt er. »Amanda Ruth. Wie starb sie?«
    »Sie wurde erdrosselt.«
    »Wer war der Täter?«
    Seine Worte erinnern mich an die Schlagzeilen in der regionalen Tageszeitung vor vierzehn Jahren. »College-Studentin Ermordet: Wer War Der Täter?«, stand an dem Tag, als man Amanda Ruths Leiche fand, in Großbuchstaben auf der ersten Seite. Am nächsten Tag brachten sie die gleiche Schlagzeile, nur war sie dieses Mal größer und mit einem Untertitel versehen: »Polizei Verhört Chinesischen Vater.« Am dritten Tag wieder der gleiche Wortlaut, in noch größerer Aufmachung, als würde das Rätselraten die Meldung interessanter machen. Und dieses Mal erschien ein neuer Untertitel, noch unheilvoller: »Verdacht Auf Lesbisches Dreiecksverhältnis.« Als ich in meinem alten Zimmer im Haus meiner Eltern saß und die Zeitung anstarrte, dachte ich automatisch an Allison, Amanda Ruths Freundin in Montevallo, die ich am Abend vor dem Mord bei einem gemeinsamen Essen kennen gelernt hatte. Erst dann kam es mir: Dreiecksverhältnis. Eine dritte Person. Bin ich damit gemeint ?
    Ich erzähle Graham nichts von dem Menschen, der in meinen Augen das einleuchtendste Tatmotiv hatte, über das ich jedoch nicht nachzudenken wagte, weil ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, Amanda Ruth könnte von jemandem ermordet worden sein, dem sie so uneingeschränkt vertraute. »Müssen wir darüber reden?«
    »Tut mir Leid.« Er legt seine Hände auf meine Schultern, sein Kinn ruht auf meinem Scheitel. Er holt tief Luft und ich spüre, wie ich dahinschmelze. Minuten vergehen.
    »Warum bin ich dir nicht schon vor zehn Jahren begegnet?«, sagt er schließlich.
    »Es hätte nicht geklappt mit uns beiden.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Vor zehn Jahren war ich zweiundzwanzig. Und du warst dreiundvierzig. Da war ich noch nicht trocken hinter den Ohren.«
    »Du hast Recht. Dann vor fünf Jahren.«
    »Siebenundzwanzig und achtundvierzig. Immer noch ein krasser Altersunterschied. Ich wäre deine Midlifecrisis gewesen. So etwas geht nie gut.«
    »Vielleicht wären wir die Ausnahme von der Regel gewesen.«
    Ein kleines Boot fährt vorüber, voll gepackt mit jungen Leuten. Die Jungen tragen glänzende bunte Hemden, die Mädchen dunklen Lippenstift und sehr kurze Röcke. Chinesische Popmusik plärrt aus den Lautsprechern. Ein junger Mann hebt sein Bier, prostet uns zu. »Gambe!«, ruft er.
    »Gambe!«, ruft Graham zurück.
    Das Boot verschwindet in der Dunkelheit, Musik und Gelächter wehen hinterher. Graham steht so nahe bei mir, dass ich spüre, wie sich sein Brustkorb mit jedem Atemzug hebt und senkt. Seine Hände gleiten langsam von meinen Schultern die bloßen Arme hinab, bis sie meine Finger umschließen. Er rückt noch näher, so dass mein Körper gegen die Reling gedrückt wird. Meine Knie werden weich. Eine zerfetzte Matratze driftet vorbei.
    »Ich habe meinen Mann noch nie betrogen.«
    Graham presst sich an mich. Seine Hände bewegen sich über meine Hüften, meinen Bauch. Der Mond ist dunkelrot, der Fluss schwarz, seine Finger sind heiß auf meiner Haut. »Ich bin dreiundfünfzig«, sagt er, den Mund an meinem Ohr. »Warum fällt mir keine

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