Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
haben, nur eine kleine Weile. ›Das ist keine gute Idee‹, meinte die Schwester. Und dann sagte meine Mom: ›Reiß dich zusammen, Stacy.‹«
Stacy schluchzt inzwischen hemmungslos und sieht uns an, als wären wir Geschworene bei Gericht oder die Krankenschwester, die Geburtshilfe geleistet hatte, oder ihre Mutter, als hätten wir ein Wörtchen bei der Lösung des Problems mitzureden. »Ich nahm sie nicht mit nach Hause. Ich hielt sie eine kleine Weile im Arm und dann nahm die Schwester sie mir weg und jemand schob mich auf der Liege in mein Zimmer zurück. Am nächsten Tag war ich wieder zu Hause bei meinen Eltern, aß Stampfkartoffeln und Roastbeef an ihrem Tisch und hatte mit jedem Atemzug das Gefühl, als würden die Wundnähte platzen. Mein Vater redete über Aktienoptionen und keiner erwähnte auch nur ein einziges Mal das Baby.«
Dave reicht Stacy eine Serviette, damit sie sich die Augen trocknen kann. Als er sich zu ihr beugt und ihr etwas ins Ohr flüstert, weiß ich tief in meinem Innern, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, dass Dave bis zum Ende der Reise unerreichbar für mich ist. Wie die Frau, die er aus dem brennenden Autowrack auf den Palisades gerettet hat, bietet Stacy ihm etwas, womit ich nicht aufzuwarten vermag – ein unverhohlenes Bedürfnis nach Balsam für die wunde Seele. Dave fühlt sich von diesem Bedürfnis genauso berührt wie andere Männer von der Schönheit einer Frau.
Sie blickt uns an, einen nach dem anderen, versucht, ein unbeschwertes Lächeln aufzusetzen. »Wie ich bereits sagte, eine von Anfang bis Ende erfundene Geschichte.« Ich erwidere das Lächeln, gebe vor, ihr zu glauben.
Es ist beinahe Mitternacht, als wir mit dem Essen fertig sind. Graham ruft ein Taxi herbei, ein winziger Lieferwagen mit Behelfssitzen. Er nimmt auf einem Plastik-Gartenstuhl neben dem Fahrer Platz und Dave lässt sich hinten auf einer alten Tiefkühlbox nieder. Dazwischen steht eine verschlissene Sitzbank, kaum groß genug für zwei, die Stacy und ich uns teilen. Der Lieferwagen hat nur einen Scheinwerfer. Während wir durch die Dunkelheit schaukeln, holpernd, bremsend, schaltend und mit quietschenden Reifen, klammere ich mich mit klopfendem Herzen an der Rücklehne des Fahrersitzes fest. Durch ein Loch im rostigen Boden des Lieferwagens, das so groß ist wie mein Schuh, ist die Straße sichtbar. Dave, hinter uns, scheint die Fahrt zu genießen, stößt jedes Mal einen Freudenschrei aus, wenn wir in ein Schlagloch geraten. Einmal, als es den Anschein hat, als würden wir umkippen, ergreift Stacy meinen Arm, um ihr Gleichgewicht zu bewahren. Unsere Blicke treffen sich. Sie hält sich eine Sekunde zu lange an mir fest, lächelt leise und zieht errötend ihre Hand weg. Ihr Knie streift das meine. Ein vertrautes Prickeln strömt durch meine Adern. Sie weiß Bescheid , denke ich. Hat sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Das Taxi setzt uns am Kai ab. Graham bleibt zurück, um zu bezahlen, und als Stacy vorausgeht, sagt Dave leise zu mir: »Sie muss sich diese Sache von der Seele reden.«
»In Ordnung«, sage ich, wie jedes Mal, wenn sein Piepser um zwei Uhr morgens ertönte, wie jedes Mal, wenn die Frau aus Chelsea anrief. »Hallo, Jenny. Ich bin’s schon wieder. Tut mir Leid, dass ich so spät noch anrufe.«
Dave läuft voraus, um Stacy einzuholen. Sie bleibt stehen, sagt etwas, was ich nicht hören kann. Die beiden treten auf das Schwimmdock, das zur Red Victoria führt. Mit jedem Schritt fühle ich, dass er mich nicht nur körperlich, sondern auch in Gedanken verlässt. Bis er das Schiff erreicht, wird er mich völlig vergessen haben.
Graham wechselt ein paar freundlich klingende Worte mit dem Fahrer, dann nimmt er meine Hand, als sei das die natürlichste Sache der Welt. »Schau«, sagt er und dreht sich um, wirft einen Blick auf Nanjing. Die ganze Stadt ist ein einziges Lichtermeer, der Vollmond glüht rot, der Fluss wogt an uns vorüber, die Bohlen des Schwimmdocks knar zen und quietschen.
»Könnte jede beliebige Stadt sein, findest du nicht?«
Er hat Recht. Wir könnten uns in jeder beliebigen Stadt, in jedem beliebigen Land befinden. Nachts hört es irgendwie auf, China zu sein. Bei diesem Licht fühle ich mich nicht so fern von zu Hause. Stacy und Dave hat der Nebel verschluckt. Ihre Stimmen werden nur noch einen Augenblick lang zu uns herübergetragen, dann verklingen sie. Graham lässt meine Hand los und legt seinen Arm um mich.
»Bin ich der Einzige?«, fragt er.
»Der Einzige
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