Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
schmutzig, mit Menschen überfüllt und von der Industrie ausgelaugt erscheinen. Häuserzeilen ducken sich wie Tiere, denen der Hunger die Kraft genommen hat, und in der Luft liegt der beißende Geruch glühender Kohlen. Der Nebel vermischt sich mit der schwarzen Asche und dem Qualm der Fabriken. Bei jedem Atemzug muss ich meine ganze Kraft aufbieten.
    Der Tag ist Daves bevorzugte Zeit. Mit Elvis Paris als Reiseleiter marschieren wir durch uralte Dörfer, lassen uns von einer absonderlichen Touristenfalle zur nächsten schleppen. Wir könnten ein x-beliebiges Ehepaar sein, das bunt bemalte Buddhas, baufällige Tempel und zubetonierte Parks besichtigt. Stacy ist stets an unserer Seite. Eines Nachmittags, als gerade eine ehemals berüchtigte Opiumhöhle auf unserem Programm steht, erzählt sie uns von ihren eigenen Suchtproblemen, Drogen und Alkohol. »Ich bin seit sechs Monaten trocken«, sagt sie. »Das ist der wahre Grund meiner Reise. Meine Eltern wollten mich unbedingt aus meinem alten Bekanntenkreis herausbringen.«
    Dave lebt auf bei ihren Worten, mustert sie so interessiert, als wäre sie einer seiner Notfälle, und ich weiß, dass er verstohlen nach Einstichstellen, blutunterlaufenen Augen und anderen Zeichen des Verfalls Ausschau hält, Zeichen, die darauf hinweisen, dass sie wieder rückfällig geworden ist. Danach widmet er ihr noch mehr Aufmerksamkeit, behält sie ständig im Blick, als könnte er jeden Moment gefordert sein, sie vom Rande eines Abgrunds zurückzureißen.
    Hin und wieder macht Dave einen Scherz, dessen Bedeu tung nur wir beide kennen, oder spielt auf eine Situation aus der Vergangenheit an, unsere gemeinsame Lebensgeschichte heraufbeschwörend. In solchen Augenblicken, wenn wir durch die Straßen gehen, in denen es von Menschen wimmelt, bemüht, den grünen Wimpel im Blick zu behalten, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verlieren – in solchen Augenblicken vergesse ich leicht, wie es mittlerweile um unsere Beziehung bestellt ist: dass wir nicht mehr miteinander schlafen, dass wir Worte mit Ecken und Kanten wählen, die verletzen. Einen Moment lang gestatte ich mir zu glauben, dass ich Dave letztlich doch zurückgewinnen könnte. Doch als ich ihn nach der Rückkehr in unsere Kabine zu küssen versuche, schließt er den Mund sofort und weicht zurück. Es ist der fünfte Abend unserer Kreuzfahrt. Die Zeit läuft mir davon.
    »Wie sieht das Programm für morgen aus?«, fragt er und dreht mir den Rücken zu, während ich mich entkleide.
    Ich blättere in der Broschüre. »Tempel. Die weltberühmten hängenden Särge. Eine traditionelle chinesische Oper.«
    Er stellt seine Schuhe fein säuberlich nebeneinander an das Fußende des Bettes und legt die getragenen Socken zusammen, bevor er sie in den Wäschekorb wirft. »Ich wünschte, ich wäre in New York.« Als er meine Enttäuschung sieht, fügt er hinzu: »Tut mir Leid. Es macht mir Spaß, ehrlich. Es ist nur – das Reisen. Eine Belastung für den gesamten Körper.«
    Ich knöpfe meine Bluse auf, enthülle einen neuen schwar zen Büstenhalter, mit roten Bändern besetzt, den ich in meinem Optimismus für die Reise gekauft habe. Dave wirft einen flüchtigen Blick auf den Büstenhalter, dann schaut er weg, als hätte er nichts bemerkt. »Ich schätze, wir müssen morgen wieder früh aufstehen.« Er beginnt, seine Kleidung für den nächsten Tag herauszulegen. Plötzlich schäme ich mich meines Körpers in Gegenwart dieses Mannes, der keine Verwendung für ihn hat, und gehe ins Bad, um mich auszuziehen.
    »Wie hat dir das Abendessen geschmeckt?«, fragt er durch die geschlossene Tür. »Die Klöße waren nicht schlecht.«
    Am liebsten hätte ich losgebrüllt »Das ist das Ende unserer Ehe und du willst dich mit mir über Klöße unterhalten?«. Stattdessen drücke ich einen Klecks Zahnpasta auf die Zahnbürste und putze mir die Zähne. Als ich das allabendliche Ritual vor dem Schlafengehen beendet habe, liegt Dave bereits mit geschlossenen Augen im Bett, atmet langsam und gleichmäßig.
    Ich setze mich auf die Bettkante, stupse ihn an der Schulter. »Dave?«
    »Hmmm.« Er öffnet kurz die Augen, schließt sie wieder und rollt auf die Seite, das Gesicht zur gegenüberliegenden Wand gedreht.
    »Können wir miteinander reden?«
    »Es ist schon spät«, stöhnt er. »Morgen.«
    »Morgen kümmerst du dich um Stacy.«
    Er öffnet die Augen gerade lange genug, um zu sagen »Ich bin fix und fertig«. Binnen Sekunden ist er wieder

Weitere Kostenlose Bücher