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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Kopfnicken auf die Räucherstäbchen, die auf dem Steinaltar glimmen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du religiös bist.«
    »Bin ich auch nicht. Aber es kann nicht schaden.« Als ich hochblicke, sehe ich, dass Dave uns aus der Ferne beo bachtet.
    Binnen zwanzig Minuten führt Elvis Paris seine Schutzbefohlenen zum Bus zurück. Stacy und Dave setzen sich nebeneinander und Graham und ich nehmen die Plätze hinter ihnen ein. Stacy hat ein schwarzes Kästchen erstanden. »Hör mal!«, sagt sie und hält es Dave ans Ohr. »Schließ die Augen und versuche, alle anderen Geräusche auszublenden.« Dave presst sein Ohr an das Kästchen.
    »Hörst du es?«
    »Ja.«
    Stacy verstaut das Kästchen in ihrem Rucksack. »Ich glaube, ich werde Mönch, lebe in den Bergen und ernähre mich von Wurzeln und Beeren.« Ich sehe sie zum ersten Mal in einer kurzärmeligen Bluse. Ihre Arme sind von Narben übersät, die ein kompliziertes Flickwerk bilden. »Hattest du jemals den Wunsch, alles stehen und liegen zu lassen und auszusteigen? Ein völlig anderer Mensch zu werden?«
    »Oft«, sagt Dave. Er blickt aus dem Fenster und ich frage mich, wer er wirklich ist, dieser Mann, den ich geheiratet habe. Könnte er tatsächlich alles aufgeben und ein neues Leben an irgendeinem unbekannten Ort beginnen? In meinen Augen war er immer der Beständige gewesen, der Fels in der Brandung. Doch nun stelle ich mir vor, wie er sich alleine, mit einem neuen Haarschnitt, einem einzelnen Koffer und seiner Kamera ausgerüstet, in einem schäbigen Motel in irgendeiner Stadt einquartiert, in der ich nie war – Detroit oder Philadelphia oder Montreal. An dem Abend, als er mir eröffnete, dass er mich verlassen würde, ertappte ich mich dabei, wie ich ihn verstohlen musterte und mich fragte, ob ich ihn jemals wirklich gekannt hatte. Ich bemerkte plötzlich Dinge an ihm, die mir völlig neu waren: die Narbe quer über seiner Nase hatte ein winziges blaues Mal an der Spitze, der zweite Zeh an seinem rechten Fuß war länger als der erste. In jener Nacht holte ich die Videokamera aus ihrem Futteral. Er schlief und hatte die Decke ans Fußende des Bettes gestrampelt. Ich setzte mich in den ausladenden Ledersessel neben dem Fenster, drückte die Aufnahme-Taste und filmte ihn beim Schlafen. Ich wollte jede Einzelheit festhalten – die Lage seiner Beine, den anmutigen Bogen seiner Hand, die über die Kante der Matratze hing, den Rhythmus seiner Atemzüge.
    Der Bus bahnt sich den Weg durch das Getümmel auf den Straßen, immer wieder muss er anhalten und anfahren. Dann erreichen wir die Außenbezirke von Jiujiang. Strohgedeckte Hütten und niedrige Betonbaracken säumen die Straße. Eine Frau in einem Mantel, langen Hosen und hohen Absätzen – ein merkwürdiger Anblick bei dieser unsäglichen Hitze – lehnt sich aus der Tür und ruft den Stadtbewohnern, die am Straßenrand stehen, unseren Bestimmungsort zu. Wenn ein potenzieller Mitfahrer das gleiche Ziel hat, läuft er einfach neben dem Bus her und die Frau schreit dem Fahrer etwas zu, der daraufhin das Tempo verlangsamt, bis der Passagier auf das Trittbrett gesprungen ist und sich an allem festhält, was er zu fassen bekommt.
    Allmählich werden die Baracken und Strohhütten spärlicher, an ihre Stelle treten Häuser aus Kalkstein mit flachen Dächern, die hoch in den Bergen verstreut liegen und Überreste der Blütezeit britischer Kolonialmacht in China darstellen. Die chinesischen Passagiere springen furchtlos vom fahrenden Bus ab und tauchen im dichten Blätterwerk unter. Die Luft wird immer kühler, je höher wir in den Nebel hinauffahren. Eine Plantage mit Bananenstauden zieht sich den Hang entlang. Befreit vom Verkehrschaos in Jiujiang, fordert der Fahrer dem rostigen Bus Höchstleistungen ab. Die Straße verengt sich zu einer Abfolge von Haarnadelkurven, die wir so schnell durchfahren, dass ich sicher bin, wir werden ins Schleudern geraten und die Klippen hinabstürzen. Das Ganze erinnert mich an Familienausflüge zum Blue Ridge Parkway, als ich ein kleines Mädchen war – an meine Mutter, die meinen Vater anflehte, beide Hände am Steuer zu lassen, als er die schmalen Bergstraßen entlangraste und dabei einen Blick auf die bläulichen Wolken tief unter uns warf, mit einem einzigen Finger lenkend. Zweimal begleitete uns Amanda Ruth, als wir Ferien im Gebirge machten, und wir sangen während der Fahrt Kirchenlieder und spielten Steckbingo auf dem Rücksitz, während meine Mutter in ihrer Todesangst den

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