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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Türgriff umklammerte und mein Vater Melodien von Kenny Rogers summte.
    Je höher wir gelangen, desto üppiger wird die Vegetation. Hier wachsen Azaleen und Pfirsichbäume, Platanen und Trauerweiden. Wenn die chinesischen Regionen, die wir bisher gesehen haben, ein Sammelsurium aus Zement und Mörtel, Fabrikschloten und Kohlenstaub waren, ist der Lu Shan Berg der inspirierende Kern, der die chinesische Poesie und Malerei beflügelt hat. Ich wünschte, Amanda Ruth wäre hier, um dieses Panorama zu sehen. Die Spitzen der Pavillons lugen über die Wipfel der dicht bewaldeten Höhen und die Landschaft ist übersät mit Tempeln und Pagoden, die sich, wie Elvis Paris uns erzählt, auf die Tang-Dynastie zurückführen lassen. Der ganze Berg ist ein einziges Blütenmeer. Wasserfälle glitzern. Die Luft riecht leicht nach Tee.
    Fotoapparate klicken und Videokameras surren, während Elvis Paris unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Wahrzeichen lenkt. Er deutet auf eine Bergkette mit fünf Gipfeln, die über den Bäumen aufragt, und sagt: »Winken Sie Fünf Alte Männer zu«, und dann, auf einen verschwom menen dunklen Fleck in der Ferne weisend, »Wer wagt, Höhle von Unsterbliche betreten?«. Ich stelle mir Elvis Paris in Khakishorts und armeegrünem Hemd vor, wie er als Steuermann im Bug eines der Boote steht, mit denen man den Disney-World-Dschungel erkundet und Touristen zur Affeninsel bringt.
    Schließlich biegt der Bus in einen kreisrunden Parkplatz ein und hält mit quietschenden Reifen. Wir stolpern auf wackeligen Beinen ins Freie. Stacy faltet eine Karte auseinander und deutet auf eine Stelle, die sie mit einem roten X gekennzeichnet hat. »Die alte Teeplantage. Die möchte ich mir ansehen. Kommst du mit?«, fragt sie Dave.
    »Klar.« Dann fällt ihm ein, dass ich ja auch noch da bin. »Was dagegen?«
    Sobald die beiden außer Sichtweite sind, nimmt Graham meine Hand. »Also nur wir zwei, du und ich.«
    »Sieht ganz so aus.«
    »Hinter den Bananenstauden befindet sich ein herrlicher alter Pavillon«, sagt er.
    Wir kommen an einem Wasserfall vorbei, der sein kla-res Wasser auf den Kopfsteinpflaster-Weg spritzt. Ich ziehe meine Schuhe aus, um die nassen Steine unter meinen Füßen zu spüren. »Wie fühlst du dich?«
    »Spitze.«
    »Ist das kein gutes Zeichen? Vielleicht besteht doch noch eine Heilungschance.«
    »Das habe ich auch schon oft gedacht, doch das ist reines Wunschdenken. An den Tagen, an denen ich mich topfit fühle, leugne ich meinen Zustand, male mir Szenarien aller Art aus, in denen die ALS -Symptome abklingen oder die Ärzte feststellen, dass sie bei mir eine Fehldiagnose gestellt haben. Doch dann kommt unweigerlich der nächste Tag.« Er wölbt die Hände, um Wasser zu schöpfen, trinkt. »Probier mal.«
    Ich halte meine Hände unter die Kaskaden; das Wasser kühlt meine Finger. Es schmeckt süß und frisch. »Wir könnten hier bleiben«, sage ich. »Noch einmal von vorne anfangen, wie Stacy meinte. Ackerbau betreiben, von dem leben, was die Erde hergibt. Ein Baumhaus errichten, wie die Schweizer Familie Robinson.«
    Wir gelangen an den Pavillon. Von dort oben hat man einen atemberaubenden Blick, die ganze Welt scheint uns zu Füßen zu liegen. Graham streckt seinen Arm aus, deutet auf die Wahrzeichen, nennt ihre Namen. Im Osten befindet sich der milchig grün schimmernde Poyang See. Im Westen erstreckt sich eine weite Ebene, kreuz und quer von Getreidefeldern durchzogen. Im Norden verläuft der Jangtse, ein dichtes braunes, sich endlos abspulendes Band.
    »Die Bezeichnung Jangtse ist eine ausländische Erfindung, wie du vielleicht weißt«, sagt Graham.
    »Wie nennen die Chinesen ihn?«
    »Chang Jiang.«
    »Was heißt das?«
    »Langer Fluss. Oder einfach Jiang. Der Fluss.«
    Von hier aus hat er mehr Ähnlichkeit mit einem Ozean als mit einem Fluss. Neben ihm scheint jeder andere Fluss zu verblassen, ein netter Firlefanz, kaum mehr als ein Rinnsal. Ich denke an den Demopolis River, den ich als Kind so heiß geliebt habe. Wie belanglos dieses magere Gerippe von einem Fluss den Millionen von Menschen wohl vorkommen würde, die an den Ufern des Jangtse leben.
    Graham bewegt sich hinter mir und legt seine Arme um meine Taille. Ich gestatte mir, mich einen Augenblick lang der Illusion hinzugeben, dass wir diese Reise gemeinsam unternommen haben, als Paar, dass wir gemeinsam nach Hause zurückkehren werden, dass wir schon viele Male auf diese Weise beisammen gestanden haben.
    »Es gibt eine Legende, die

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