Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Allison unternommen hatte. Danach trat Funkstille ein.
»Bist du viel gereist?«, fragt Graham.
Ȇberwiegend in den Vereinigten Staaten. Und einmal habe ich mit Dave eine Rucksacktour durch Europa unternommen.
»Wie gefällt dir China?«
»Ehrlich gestanden, ich habe die Reise nur wegen Amanda Ruth unternommen. Seit ich hier bin, ist meine Neugierde geweckt, doch ich glaube, ich habe den falschen Weg gewählt, um das Land kennen zu lernen. Der Pauschaltourismus mit der auf den westlichen Geschmack abgestimmten Verpflegung und den straff organisierten Besichtigungstouren ist nicht nach meinem Geschmack. Es kommt mir vor, als befände sich das wirkliche China außerhalb unserer Reichweite.« Ich drehe mich in seinen Armen um. »Was ist mir dir? Warum ausgerechnet China? Warum nicht Alaska oder Paraguay oder Indien?«
»Die meisten Länder sind heute vom Tourismus überschwemmt. China stellt noch eine Herausforderung dar. Es hat sich seine Fremdartigkeit bewahrt. Es wird immer Geheimnisse bergen, die ich nicht lüften kann. Die beste Art zu reisen ist für mich diejenige, die eine längere Fahrt mit Auto, Bus, Flugzeug, Bahn oder Boot erfordert. Ich möchte so weit weg von zu Hause sein, dass keine Möglichkeit besteht, an einem Tag oder binnen zwei Tagen zurückzukehren.«
»Ich bin das genaue Gegenteil. Es gefällt mir, mein eige nes Bett, meine Kleidung, Töpfe und Pfannen zu haben. New York City hat für mich etwas Friedvolles.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ein Mädchen aus Alabama ausgerechnet nach New York City verschlägt.«
»Nach Amanda Ruths Tod war Alabama nicht mehr das, was es früher war. Ich lernte eine Seite der mensch lichen Natur kennen, mit der ich nie mehr konfrontiert werden möchte.«
»Den Mord meinst du.«
»Nein, den Terror, der folgte. Die Leute aus der Umgebung waren wie Haie, die ihre Beute umkreisen. Sie lechzten nach Blut, nach Demütigung. Ich hatte Angst, auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen, weil sie mich angafften und mit dem Finger auf mich zeigten.«
Ich erzähle ihm nicht, wie schlimm die Hexenjagd wirk lich geworden war, dass die Pastoren von der Kanzel wetterten, Amanda Ruth, Allison und ich seien pervers, der Inbegriff des Bösen. Eine Tageszeitung fühlte sich sogar bemüßigt, einen Leitartikel mit der Überschrift zu bringen »Wie wir unsere Kinder vor Lesbierinnen und Schwulen schützen«, als würden hinter jeder Straßenecke Homosexuelle lauern, die es darauf abgesehen hatten, unschuldige Kinder zu verderben. Die Stimmung in der Öffent lichkeit grenzte an Massenhysterie. Ich kam mir vor wie in einem Szenario von Kafka, wo gefesselte Individuen gegen verborgene, allgegenwärtige Mächte kämpfen und langsam aber sicher aus der Gesellschaft gedrängt werden.
Einen Monat später war ich in New York City, stieg auf dem La Guardia Airport aus dem Flugzeug und niemand schenkte mir Beachtung. Niemand behelligte mich. New York City hieß mich mit offenen Armen in der Fremde willkommen, auf eine Weise, wie es meine Heimatstadt niemals tun würde. Es spielte keine Rolle, wen ich liebte oder wessen man mich bezichtigt hatte. Ich war nichts weiter als eine New Yorkerin unter vielen.
»Seither war ich nur wenige Male zu Hause, doch es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an Amanda Ruth denke. Ist das nicht sonderbar?«
Ich denke an Amanda Ruth, an ihren verzweifelten Wunsch, China kennen zu lernen, an die Bildbände, die sie unter ihrem Bett versteckt hatte, mit reizvollen Aufnahmen von der Verbotenen Stadt, den Bergen von Guilin am Li Fluss, dem Lichtermeer von Shanghai. An die Innenwand ihres Kleiderschranks, hinter ihre Sommerkleider, hatte sie ein Schwarz-Weiß-Foto von den Drei Schluchten geklebt. Die Steilwände ragten in den Himmel hinauf, der wie ein schmaler Streifen im Vergleich zu den Klippen wirkte, und zwischen den Klippen eingebettet lag ein enger Abschnitt des Flusses, flach und überschattet. Im Vordergrund befand sich ein kleiner dunkler Fleck, den wir erst entdeckten, als das Foto schon einige Monate in Amanda Ruths Kleiderschrank gehangen hatte. Wir hielten ein Vergrößerungsglas an den Fleck und erkannten, dass es sich um einen Sampan handelte. Unter dem U-för migen Verdeck, durch das ein Hauch Abendlicht schien, machten wir eine Miniaturgestalt aus – einen Mann, der aufrecht im Boot stand und es mit einer langen, biegsamen Schifferstange lenkte. Amanda Ruth und ich sahen uns an, sprachlos. Wir konnten die gigantischen
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