Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Jahren passten sich die baiji der Dunkelheit des Flusses an und heute sind sie beinahe blind. Sie orientieren sich anhand akustischer Signale. »Doc h heute gibt es hier zu viele Boote«, sagt Dr. Wu. »Zu viel Lärm.«
»Okay, sehr gut, jetzt wir gehen«, erklärt Elvis Paris. Doch Dr. Wu möchte uns noch etwas zeigen. Er führt uns in einen anderen Raum, wo die baijis ausgestellt sind, die das Pech hatten, von den rotierenden Haken getötet zu werden. Ihre silbergraue Haut ist zerfleddert und zerfetzt, die Augen sind gebrochen. Ich mache ein Foto und sofort schreitet Elvis Paris ein. »Kein Foto hier! Sie Foto von QiQi machen, aber tote baiji nicht gut. Bitte Film geben!«
»Ist das Ihr Ernst?«
Graham nimmt mich beiseite. »Du solltest tun, was er sagt. Er kann Dr. Wu Schwierigkeiten machen.«
Ich entferne den Film aus der Kamera und reiche ihn Elvis Paris. Er wirft ihn in den Abfalleimer und führt uns nach draußen, in den grauen Nachmittag hinaus.
In der Nacht, unter einem Sonnensegel an Deck, das mich vor dem anhaltenden Nieselregen schützt, träume ich von dem baiji. In meinem Traum schwimmt der Delphin im Fluss hin und her, doch plötzlich verwandelt sich der Fluss in einen Swimmingpool – und am Ende hat er auch keinen Swimmingpool mehr, sondern nur noch eine Badewanne. Dann befinden wir uns wieder auf dem Fluss und der Delphin schwimmt neben unserem Schiff her. Er ist glänzend und weiß, schlank, die Haut zum Zerreißen gespannt, die Augen tieftraurig. Das Schiff stampft durch das Wasser, Autos donnern über eine Brücke. An Land das Heulen von Kränen, das Hämmern von Breithacken. Der Delphin, verwirrt von dem Getöse, dreht und wendet sich. »Seht doch! Da ist ein baiji !«, rufe ich dem Kapitän unseres Schiffes, den vorbeifahrenden Sampans und dem Paar aus Texas zu. »Es gibt weltweit nur noch fünfzig von ihrer Art!« Doch niemand kommt, um einen Blick auf ihn zu werfen. Am Horizont erhebt sich ein Tempel auf dem Steilhang eines Hügels und Die Stimme verkündet über Lautsprecher: »Weltberühmte hängende Tempel von China.« Alles eilt zum Heck des Schiffes, um Fotos von der Landschaft mit dem Tempel im Hintergrund zu ma chen. Als ich wieder in die Fluten hinabschaue, ist der Delphin verschwunden. Ich höre einen furchtbaren Schrei, der wie der Schrei eines Menschen klingt. Der aufgewühlte Fluss färbt sich blutrot.
18
Etwa die Hälfte der Passagiere ist in Wuhan geblieben, zusammen mit einem unverhältnismäßig großen Anteil der Crew. Wir verwandeln uns in ein Schiff mit Gestrandeten, die man mutwillig ihrem Schicksal überlässt. An Bord herrscht Chaos. Die Besatzungsmitglieder sind mit einem Mal lax geworden und nur noch auf ihr eigenes Vergnügen bedacht. Die ganze Nacht sieht man sie bei Glücks spielen oder Scharaden mit den Passagieren bis zum Umfal len trinken. Die Krawatten der Stewards wurden gelockert. Der zweite Kapitän hat das Regiment übernom men, der erste hat sich für ein paar Ruhetage in Wuhan entschieden. Elvis Paris ist in seinem Element, er nennt uns die Meuterer.
Am nächsten Tag gießt es in Strömen. »Hier entlang«, sagt Graham.
»Wohin gehen wir?«
»So viele Fragen.«
Wenige Minuten später finde ich mich in seiner Kabine wieder. Er räumt ein paar Dinge vom Sessel, der frisch mit einem steifen pinkfarbenen Stoff bezogen wurde. Ich nehme Platz, unsicher, wohin mit meinen Händen, meinen Füßen. Ich schlage die Beine übereinander, stelle sie wieder nebeneinander, blicke mich im Raum um. Ein Druck von der London Bridge bei Einbruch der Nacht hängt über dem Bett. Die Lampe auf dem Tisch ist mit einem britischen Militäremblem gekennzeichnet. Auf der Frisierkommode steht eine Batterie brauner Arzneiflaschen, die Aufkleber sind mit unaussprechlichen Namen beschriftet. Daneben steht ein Schraubverschluss-Glas mit einzeln verpackten Spritzen, ein weiteres mit Wattepads. Im Raum riecht es nach Medizin und abgestandener Luft.
Wir sitzen eine Minute oder zwei schweigend da, bevor er fragt: »Wie ist Amanda Ruth gestorben?«
»Das sagte ich bereits. Sie wurde ermordet.«
»Ja, aber wie genau?«
Seine Detailbesessenheit, sein Bedürfnis, etwas über die Hintergründe zu erfahren, überrascht mich. Ich drehe mich um, blicke durch das Bullauge. Die ganze Welt verbirgt sich hinter einem Regenschleier. Ich möchte die Welt außerhalb des Schiffes sehen, außerhalb dieses erstickenden Raumes, doch drinnen herrscht mehr Licht als draußen und alles, was ich
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