Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
an, dass es für diese Bitte einen guten Grund gibt.«
Ich gehe zu ihm und setze mich rittlings auf seinen Schoß. Ich presse meine Knie mit aller Kraft gegen seine Hüften, nehme sein Gesicht in meine Hände und blicke ihm in die Augen. »Sag mir eines. Verbindest du damit einen Hintergedanken?«
Er wendet den Blick ab, die Arme liegen schlaff zu beiden Seiten seines Körpers. Ich bin beinahe froh, dass er schweigt. Mir graut vor seiner Antwort.
»Und was ist mit dir?«, frage ich und gebe sein Gesicht frei.
Er lässt sich auf das Bett zurückfallen und starrt an die Decke. »Das käme auf die Umstände an.« Er hält inne, dann sagt er: »Ja. Ich nehme an, ich wäre dazu in der Lage.«
19
Kurz nach zwölf am nächsten Tag legen wir in Sashi an. Dave ist nirgendwo zu sehen. Er ist gestern Nacht nicht einmal mehr in die Kabine gekommen. Er hat aufgehört so zu tun, als ob. Vielleicht müsste ich jetzt wütend oder niedergeschlagen sein, doch ich vermag die angemessenen Gefühle nicht mehr aufzubieten. Dave beginnt bereits, sich im Nebel der Vergangenheit zu verlieren, traumähnlich und verblasst, während ich Graham immer mehr als reale, greifbare Gegenwart empfinde. Wir gehen gemeinsam in die Stadt und bestellen in einem kleinen Restaurant unweit des Eingangs zu einem Park verschiedene Gemüsesorten mit Rindfleisch, die köstlich schmecken, und trinken dazu starken Tee.
Nach dem Mittagessen eröffnet mir Graham, dass er einen alten Freund in der Stadt besuchen will. »Du kannst ja in der Zwischenzeit den Park erkunden. Wir treffen uns in drei Stunden am Eingang.«
Es nieselt, als er mich in einem Pavillon unweit eines kleinen Teiches zurücklässt, in dem es von schillernden Koi wimmelt. Die Säulen des Pavillons sind mit farbenprächtigen, kunstvoll gestalteten Fliesen geschmückt. In einem anderen Pavillon auf der gegenüberliegenden Seite des Teiches sitzt ein Mann im Nadelstreifenanzug und meditiert. Ich nehme mein Reisejournal heraus und beginne zu schreiben, weil ich denke, dass ich mich eines Tages an diese Szene erinnern möchte. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich Amanda Ruths Mutter anrufen und ihr meine Eindrücke von China schildern. Ich sehe wieder ihr Gesicht vor mir, an dem Tag, als sie mir die Asche ihrer Tochter überbrachte: Sie stand mit einer großen Sonnenbrille und zerknitterten weiten Hosen, die Haare unter einem grünen, nach hinten gebundenen Kopftuch verborgen, unangemeldet auf meiner Türschwelle. Sie wirkte ungepflegt und irgendwie jünger, wie ein verlorener, verängstigter Teenager.
Regenpfützen bilden sich auf dem Pflaster. Ich sitze etwa zehn Minuten auf meiner Bank, als sich mir eine attraktive junge Frau nähert. Sie trägt ein gelbes Sommerkleid und teuer aussehende Ledersandalen, ihre Fußnägel sind in einem blassen Pink lackiert. Sie setzt sich mitten auf die Bank, direkt neben mich.
»Hallo«, sagt sie. »Mein Name Yuk Ming. Sprechen Sie Englisch?«
»Ja. Ich heiße Jenny.«
Sie trägt winzige goldene Ohrringe, Kreolen, und einen Diamantring. Ich schätze, dass es sich um Modeschmuck handelt. Die meisten chinesischen Arbeitnehmer könnten sich niemals einen solchen Luxus leisten. »Sie Amerikanerin?«
»Ja.«
»Ich treffe viel Amerikaner«, erklärt sie eifrig. »Ich versuche, Englisch lernen. Mein Englisch sehr schlecht. Ich will besuchen New York City ein Tages.«
»Ihre Aussprache ist außergewöhnlich gut«, erwidere ich anerkennend. Es stimmt. Obwohl es an der Grammatik hapert, sind Aussprache und Betonung perfekt.
Sie deutet auf mein Reisejournal. »Sie schreiben für Zeitung?«
»Nein, das ist nur eine Art Tagebuch, das mir helfen soll, mich an die Reise zu erinnern.«
»Sie in China für Urlaub?«
»Ja, wir machen eine Jangtse-Kreuzfahrt.«
»Oh! Ist sehr schön. Längster Fluss von Welt!«
»Der drittlängste«, berichtige ich sie, obwohl ich mir unverzüglich wünsche, ich hätte es bleiben lassen.
»Nein, ich sicher, er ist längste.«
Ich wechsle das Thema. »Was machen Sie beruflich?«
»Ich Verwaltung in Hospital.«
»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»In China alle Leute lieben heute Arbeit, nicht wie Amerika. In Amerika alle Leute hassen Arbeit. Ist wahr?«
»Bei manchen Leute schon. Ich finde meine ganz in Ordnung.«
»Wie viel bezahlt?«
»Genug zum Leben.«
»Hier Arbeiter sehr gut behandeln. Bezahlung nicht viel hoch, aber okay, weil Arbeitgeber gibt Medizin-Versorgung, Wohnen, alles. Kein Menschen auf Straße leben in
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